Klangkontakt und Kosonanz - Übungen zur Wahrnehmung und Bildung des Stimmklanges

Heinz Stolze, September 2002, in www.forum-stimme.de seit 9.6.2004

Klangkontakt und Kosonanz als Beispiel interdisziplinärer Stimmarbeit
Das Übungskonzept "Klangkontakt und Kosonanz" hat sich in 15 Jahren intensiver Arbeit an der Stimme entwickelt. Naturwissenschaftliche Untersuchungen und Stimmarbeit von allgemein anerkannter Art bis hin zu den "feinsten mentalen Ebenen" gingen parallel einher. Ein ständiges Begleiterpaar waren die Einsicht, daß hier so vieles fruchtbar zusammenkommen könnte und die tägliche Erfahrung, daß Denkweisen und Sprachen der verschiedenen Disziplinen offenbar kaum zusammenfinden. Ernüchternd waren immer wieder zwei Einsichten: Sänger, Pädagogen und interessierte Laien scheitern fast zwangsläufig beim Versuch, sich akustisch sachgerecht zu äußern. Naturwissenschaftlich basierte Forscher bieten zentrale Themen in einer Form an, die für die künstlerisch-pädagogische Seite praktisch unbrauchbar ist. Die gängige Darstellung des sogenannten "Primärklang-Filter-Modells" und die wegen des Energieerhaltungssatzes unmögliche "Verstärkung durch Resonanz" sind Musterbeispiele der Blockade soliden interdisziplinären Zusammenkommens. Die Zerrissenheit äußerte sich auch in den konträren Einstellungen, die verschiedene Vortragende und Workshopleiter auf den 4. Stuttgarter Stimmtagen präsentierten. Beispielsweise hörte man am Nachmittag eine überzeugte Ablehnung jedes Gedankens an die Akustik ("den Kehlkopf muß man sich wegdenken") nachdem am Tag zuvor die Möglichkeiten des "Biofeedbacks" mithilfe des Real-Time-Spektrogrammes euphorisch präsentiert wurden.

Der Weg zum Klangkontakttraining begann in den 80-er Jahren mit Spektren und Spektrogrammen. Sängerformant, Vokalformanten, Vibrato, Intonation - dies und vieles andere ist dabei erkennbar. Und trotzdem interessiert es die meisten Sprecher und Sänger auf Dauer nicht. Die visuelle Präsentation regt meist zu länglichem Diskutieren an, wo konkretes Tun förderlicher wäre (Stolze, 1998). Viel mehr Interesse tat sich auf, wenn Formanten akustisch präsentiert wurden. Einfache Erfahrungen, wie zu hören, daß ein "I" zu einem "U" wird, wenn man den zweiten Formanten entfernt, haben hohe Erlebnisqualität. Doch halt! Der Begriff "Formant" ist eigentlich viel zu beladen mit Wissenschaft und trifft genau genommen gar nicht das, was man hört. Er bezieht sich auf akustische Strukturen - diese sind keineswegs eins zu eins mit Wahrnehmungen gleichzusetzen. Die Lösung: Wir sprechen von dem dunklen I-Anteil und dem hellen I-Anteil und bemerken, daß jeder vokalische Laut zwei derartige Klanganteile hat. Mit diesen Begriffen läßt sich nun auch sprachlich kreativ arbeiten, etwa wenn es um die Stimmfunktion geht. Ich kann fragen: Magst du den dunklen A-Anteil? Hat er vielleicht eine bestimmte Farbe? Unterstützen sich die beiden Anteile gegenseitig, oder behindern sie sich? Dieselben Fragen bezüglich der Formanten wären schlicht sinnlos. Die Notwendigkeit, eine geeigneten Sprache für vokologisch basierte Stimmarbeit zu finden, ist in Stolze (1997) näher ausgeführt.

Zur Praxis des Klangkontaktes: vom Erleben eines akustischen Phänomens zur Klanggestaltung
Es ist sehr interessant, zu versuchen, einen Klanganteil, den man als Auszug gehört hat, im Gesamtklang wiederzuerkennen. Dazu wurden systematische Übungen entwickelt. Das Grundkonzept des Klangaufbaus aus dunklem und hellen Vokalanteil und darüberliegender Brillanz wurde im Workshop erlebbar. In einem nächsten Schritt kann dieses Erleben so intensiv werden, daß man fast vermeint, diese Klanganteile anfassen zu können. Man singt zu solchen extrahierten Klanganteilen. Die Herstellung und Auflösung von Kontakt zu einzelnen Anteilen läßt sich sehr effizient gestalten, wenn diese Anteile fixiert sind. Das heißt, alle zeitlichen Schwankungen sind eliminiert. Während zunächst der Computer benutzt wurde, um solche Referenzklänge herzustellen, ist es inzwischen üblich, zunächst ganz auf Geräte zu verzichten. Zwei Menschen, die sich gegenüberstellen und bestimmte Vokalkombinationen singen, erfahren den Klangkontakt ganz ohne Hilfsmittel. Wir benutzen noch synthetische Klänge um das "Aufnehmen der Spur" zu erleichtern und zu demonstrieren, daß wir im Klangkontakttraining mit handfesten Strukturen, nicht mit Einbildungen arbeiten.

Natürlich ist es Niemandem egal, ob ein Partner einen bestehenden Kontakt auflöst, oder vielleicht einen neuen herstellt. Ob er das einfühlsam tut oder vielleicht aggressiv. Auf das Kennenlernen des Klangkontaktes folgte im Workshop also eine Art Klangtheater. Auf einem Ton wurden Charaktere und Emotionen dargestellt und Entwicklungsprozesse ausgelöst. Wir spielten mit Rollen und Situationen des Märchens "Froschkönig". In unserer Arbeit mit Chören ist die gute mental-klangliche Verbindung, die sich so herstellen läßt, der Ausgangspunkt für ein intensives gemeinsames Stimmerleben bei Improvisationen und Literatursingen. Das "Klangtheater" machte im Workshop soviel Freude, daß das Thema Kosonanzarbeit etwas kurz kam und nur theoretisch vorgestellt werden konnte.

Kosonanzarbeit: Klangkontakterfahrung in Stimmtechnik umsetzen
Zum Thema "Kosonanz". Jeder Sänger weiß, daß er manchen Ton auf einem bestimmten Vokal gut, auf einem anderen nur schlecht singen kann. Er merkt, daß die Stimmlippenschwingung auf dem einen Vokal besser funktioniert. Insofern ist es unverständlich, daß die Vorstellung eines akustisch im Ansatzrohr vorhandenen Primärschalles, der unabhängig von der Ansatzrohreinstellung zustandegekommen sein soll und dann nur noch irgendwie überformt wird, nicht von Anfang an heftigste Proteste der Sängerwelt hervorgerufen hat. "Kosonanz" heißt: Der Schall kommt von vornherein im Zusammenspiel von Stimmlippenschwingung und Ansatzrohr, sowie auch dem subglottalen "Rohr" zustande. Der Resonanzbegriff ist wie bereits erwähnt durch die unglückselige "Verstärkung durch Resonanz" entwertet. Dazu kommt, daß man sich bei Resonanz i.a. eine fertige Welle vorstellt, die dann "Resonanz" erfährt. Der Begriff "Kosonanz" wurde aus guten Gründen absichtlich entgegen einer gängigen Wortbildungsregel (keine Regel ohne Ausnahme) geprägt. Zum einen soll er gezielt gegen den abgenutzten Resonanzbegriff gestellt werden, zum anderen hat das formal richtig gebildete Wort "Konsonanz" eine andere Bedeutung.

Wer die Klanganteile der Vokale im Klangkontakt erlebt hat, kann leicht feststellen, daß sie die Tonbildung unterstützen können oder behindern können. Es wurde in diesem und anderen Workshops von Teilnehmern eingeworfen, daß ja bekannt sei, daß Vokale Einfluß auf die Stimmfunktion haben. Das Literaturstudium und die Nachfrage bei Kurtsteilnehmern zeigen aber regelmäßig, daß die Differenzierung in die beiden Anteile dunkel und hell nicht bekannt ist, und damit das Zusammenspiel mit der Stimmlippenschwingung nicht so erfaßt wird, wie es für eine konsequente Stimmarbeit nötig ist. Die Kosonanzarbeit zielt auf die Optimierung dieses Zusammenspiels. Die Bedeutung der Rückwirkungen des Schalls im Ansatzrohr und im subglottalen Bereich auf die Stimmlippenschwingung und die Schallproduktion an der Glottis ist anhand der Messungen von Schutte und Miller (1988) klar ersichtlich. Man fragt sich beim Üben: behindert oder fördert dieser oder jener Klanganteil die Stimmlippenschwingung und wie läßt sich die Situation optimieren. Aus der Vokologie ist bekannt, daß man gegenseitige Behinderung durch Sängerformatbildung mit weitem Rachen und ausgeprägte vertikale Phasenverschiebung der Stimmlippenschwingung reduzieren kann. Im Kosonaztraining wird dieses Wissen in ein Szenario, das in sprachlich-kreativ benutzbaren Begriffen beschrieben wird, übertragen. Sehr hilfreich ist die Kosonanztafel (siehe Abbildung unten), die angibt, auf welchen Tönen bei einem bestimmten Vokal positive und negative Einwirkungen aus Ansatzrohr und subglottalem Bereich zu erwarten sind. Diese "Einwirkungsstellen" bezeichnen wir als Kosonanzpole. Die Angaben beziehen sich auf eine Darstellung von Titze (1994) und auf eigene Untersuchungen. Sie gelten für die sprechähnliche Formung der angegebenen Vokale (jeweils geschlossen artikuliert) bei einem glottalen offen:zu-Verhältnis von 50%. Bei Veränderung dieses Verhältnisses um +/- 10% ist mit einem Anstieg/Abfall der Pole um ca. 2 Halbtonschritte zu rechnen. Die Tafel ist als Einstiegsschlüssel zu verstehen, um das Wechselspiel zu erfahren. Sängerisch geformte Laute sind bereits unter Berücksichtigung dieser Kosonanzphänomene gebildet und können zu durchaus anderen Verhältnissen führen, etwa durch sogenanntes Formant-Tuning (Sundberg, 1997). Weitere Informationen zum Umgang mit diesen Daten und zum Klangkontakttraining finden sich in Stolze (1999), Stolze (2002) und unter www.forum-stimme.de.

Literatur
Schutte, H.K., Miller, D.G. (1988): Resonanzspiele der Gesangsstimme in ihren Beziehungen zu supra- und subglottalen Druckverläufen: Konsequenzen für die Stimmbildungstheorie, Folia phoniatrica 40: pp. 65-73
Stolze, H. (1997): Klangorientierte Stimmarbeit und Einsatz von computerbasierten Hilfsmitteln. In: Singen als Gegenstand der Grundlagenforschung, Gembris, H. (Hrsg.), Augsburg, pp. 137-158
Stolze, H. (1998): Einsatzmöglichkeiten des Computers im künstlerischen Stimmtraining für Sprache und Gesang. In: Die Ausdruckswelt der Stimme, Gundermann Horst (Hrsg.), Heidelberg, pp. 331-335
Stolze, H. (1999): Klangkontakt und Kosonanz: Ein Stimmtrainingskonzept für Chorsingen, Sologesang und Sprechen. Sprache-Stimme-Gehör 23, pp. 88-97
Stolze, H. (2002): Klangkontakttraining für Singen und Sprechen. In: Stimmkulturen / 3. Stuttgarter Stimmtage 2000, Geissner, H. K. (Hrsg.), St. Ingbert, 2002
Sundberg,J.(1997): Die Wissenschaft von der Singstimme, Bonn, pp. 170-177
Titze, I. R. (1994 ): Principles of voice production, Prentice-Hall, Inc., pp. 264-268