Skizzierung der Themen des Stimtages am 6.10.2006
(unvollständig, in Kurzform)


Vortrag: Stimmfunktion und Sprechen - die Bedeutung der Körperlichkeit

Vorab: Wie geht es Ihren Stimmbändern heute?
Haben sie eine Vorstellung, wie Ihre Stimmbänder aussehen, wie und wo sie aufgehängt sind, glauben Sie, daß sie wie Saiten funktionieren, wie stellen Sie sich entzündete Stimmbänder vor? ...

Kehlkopf
Blick von oben in den Kehlkopf zeigt Stimmlippen, es sieht eher aus wie ein Mund. In den muskulären Lippen verlaufen zwar Bänder, die eine gewisse Formgebungsfunktion haben. Die übliche Vorstellung von Stimmbändern ist jedoch unzutreffend.

Stimmlippenbewegung beim Stimmeinsatz und bei der Phonation wird gezeigt. Die Bedeutung der Beweglichkeit der Randkanten wird erklärt.

Gaumensegel
Simulation der Gaumensegelbewegung beim Abschluß des Nasenraumes mit den Händen. Bei fast allen Sprachlauten (außer den nasalen) ist eine Anspannung im Gaumensegel nötig!

Artikulation
Aufwölbung der Zunge, bei I vorn, in der Abfolge I-E-A-O-U immer weiter hinten,
Übung: dies empfinden beim Tönen auf UOAEI-IEAOU

Kieferöffnung: bewußt erfahren, wie man per kieferöffnung vom "geschlossenen" zum "offenen" Laut übergeht.
Beispiele:
U (wie in Kuh) zu U (wie in Butter)
O (wie in Zoo) zu O (wie in Ost)
etc. (A, E, I)

Körperphilosophie
Trennung von Leib und Geist bzw. Seele - Vor allem in der Aufklärung, etwa Decartes: Cogito ergo sum
Heute aus verschiedenen Gründen wieder mehr Verbindung. Ich nenne 3 Aspekte:

1. Psychologie: Emotionen, offenbar viel Körpergebundener als vermutet
In dem Sinne : Körperreaktionen (Schweiß, erhöhte Pulsrate, Erstarrung, Verspannung ...) weniger Folgen eines Mentalen Zustandes als substantielle Darstellung desselben
SO auch: ich merke eine Stimmung durch Bewegung oder durch die Stimme

2. Artifizielle Intelligenz: Neuer Ansatz (ZDF im Bereich der fußballspielenden Roboter): lernfähiger Roboter muß durch Bewegung mit Pseudoarmen/Beinen in einer Umgebung Erfahrungen sammeln. Allein über mathematische Algorithmen scheint keine menschenähnliche Intelligenz erreichbar.

3. Der reine Gedanke ist "dünn" verglichen mit dem gesprochenen. Beim Sprechen kommen mehr Assoziationen und Gefühle als nur beim Denken. Über die Verfertigung der Gedanken beim Sprechen (Kleist). Also nicht nur ein einzelner Gedanke wird faßbarer, sondern es kommen viel mehr Impulse für ein größeres, vollständigeres Gedankengebäude. Dasselbe gilt für Musik! Gesungene Lieder sind ungleich mehr als vorgestellte.

Vorschlag: Körper nicht mehr als Objekt des Geistes und der Seele sehen.
auch mit Körper mehr meinen als nur Körperteile, immer das "lebendige" Körperteil mitsamt seiner Innervierung = neuronalen Steuerung sehen. Akzeptieren, daß zwischen Neokortex (für die reinen Gedanken), limbischen System (Gefühle, Emotionen), Stammhirn, Rückenmark keine Aufteilung in Zuständigkeit für nur Geistiges oder nur Körperliches möglich ist.

Primärfunktion
Atem: Stoffwechsel, langsame Ausatmung (Dosierung) wie für Stimme sinnvoll, eher unsinnig
Artikulation: Bereich der Nahrungsbearbeitung, konkreter Zerkleinerung, chemische Vorbearbeitung und Transport - Formgebung für Vokaltrakt
Kehlkopf (Phonation): Schutz des Lungenraumes vor festen, flüssigen Substanzen, früher in Evolution (Wassertiere): schnell atmen, sofort verschließen und abtauchen

Bei der Stimme müssen diese Organe in einem "neuartigen" Verbund arbeiten und dabei ihre Primärfunktionen zurückstellen. Diese sind aber sehr "stark" (schnell, hohe Priorität, lebenswichtig)

Vergleich mit Instabilität der Aufrichtung.

Thema immer: wie kommt "körperlicher Aspekt" der alten Funktionen mit dem Neuen der Stimme zusammen?

Abstrahlung in den Körper
Die drei Wege:

1. Durch die Luft über dem Kehlkopf (von dort durch die Wandungen des Vokaltraktes auch in Gewebe und Knochen)

2. durch die Luft unter dem Kehlkopf (von dort durch die Wandungen der Luftröhre, Bronchien auch in Gewebe und Knochen)

3. Direkt vom Kehlkopf, der durch den Luftdruckwesel beim Phonieren auf und ab getrieben wird, über dessen Aufhängung in den Körper

Die Bedeutung von Resonanzen (akustische Energiespeicher)
- fördern Transfer Luftweg-Knochen (Gewebe)
- bieten damit Wege, um in bestimmte Körperpartien zu kommen

Bei der Wahrnehmung vom Schall im Körper als Vibration überlagert sich der tatsächlich vorhandene Schallpegel mit dem "Scheinwerfer", der Aufmerksamkeitsfokussierung auf bestimmte Stellen. Gewohnheiten, Abfolgen von Lauten spielen eine Rolle für die Lokalisation der Vibrationen

Wozu ist die Einwirkung der Stimme auf den Körper gut?
A: Gutes für den Körper
These: Verbreitung einer Einstellung von Freiheit, unter anderem durch die Ablösung von Zwängen durch Primärfunktionen
B: Gut für die Stimme - ist eine Erfahrung
Vermutung. a) Ablenkung, b) Entlastung von Laustärkeanforderung, c) feinere Sensumotorik (Anschlagstellen der Lilli Lehmann)

Hörbeispiele, Körperschall:
1. IN LUFT: M A O I
2. AM KEHLKOPF: dunkel
3. OBEN AUF DEM KOPF : hell
4. RIPPENBOGEN: auf O und A heller Klanganteil (noch von Luftröhrenresonanz?)
5. LENDENWIRBELSÄULE: das M und besonders das I kommt hier gut hin - (werden wir noch in einer Übung benutzten) - dunkler Anteil des I

Die Sichtweise "Körper als Objekt" auflösen
Der Körper wird oft nur als ausführender Diener von gedanklichem Wollen gesehen - ist aber viel mehr! Die
Stimme kann hier als Vermittler zwischen Gedanken und Körper viel Gutes bewirken.
Generell: das Objekt Körper einmal zum Subjekt machen und schließlich das Denken in Objekt und Subjekt überhaupt auflösen. (Beispiel Massageübung Beißmuskel, freiere Artikulation)


Zusammenfassung, 3 Thesen

1. Es gibt viel zu entdecken am eigenen Körper und vor allem im Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist.

2. Dieses Thema wird gerade in Reaktion auf die Digitalisierung und die Entfremdung vom Körperlichen in diesem Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielen.

3. Dabei wird die Stimme - und insbesondere die Würdigung ihrer Körperlichkeit- hilfreich sein.


Stimm- und Sprechübungen zum Mitmachen

Basisstimmtraining

Atmung: Zwerchfellatmung, lösendes Ausatmen, dosiertes Ausatmen
- Gute Spannung in Schulter und Armen, Unterstützung des Körpers durch die Stimme, auf Vokal U
- Gute Spannung im Kopfbereich, Unterstützung des Körpers durch die Stimme, auf Vokal I
- Das I (auf Tonhöhe um c (Männer), c´(Frauen)) enthält immer ein U (wegen der Formant-Situation). Die Vokalgleitübung I-U-I macht das erfahrbar.
- Somit lassen sich per I-U-I auch die Bereiche guter Spannung im Körper (schulter, Arme und Kopf) miteinander in Verbindung bringen (integrieren)

- eine ähnliche Relation wie für U und I gilt auch für O und E,
Analoge Übungen: Körpererfahrung der Laute, Wahrnehmung der Formantverwandtschaft
- Verbindung der Wirkungen von I-U-I und E-O-E in einer Übung mit Partner.

Improvisation auf Text/Melodieelementen (Septakkord, 5-stufige Tonleiter)


Stimm- und Sprechübungen zum Mitmachen

Körper-Klang Bezug

Brustraum
- starke Schwingungswahrnehmung im Brustbereich auf O (wie in offen), ideale Tonhöhe: h (Männer ggf. H)
- Anregung des Klangraumes durch Klopfen auf das Brustbein, Stimme so führen, dass sie "hingeht und mitmacht" (sich nicht stören läßt)
- Ausbreitung der Vibrationswahrnehmung in den Oberkörper über die Vokalfolge O (wie in offen)- O (wie in Ofen) - A - Ä

Kopfraum
- vorne erreichbar über M
- hinten über N
(beides auch mit zugehaltenen Ohren hören)
- Kopf von vorn zur Mitte hin per: M-U-I
-auf I "Blume" über der Schädeldecke wahrnehmen bzw. vorstellen
- mit Partner: Klang der anderen Stimme (eine Quint höher) in die "Blume" mit einbinden

Brust- und Kopfraum verbinden (integrieren) ähnlich wie oben.

Massage des Beißmuskels mit den Händen und mit dem Stimmklang (M). Auflösung der Vorstellung, der Muskel sei ein Objekt (der Massage...) Herstellung einer leichten Beweglichkeit des Kiefergelenks.

Improvisation auf Lauten, Verdichtung der Stimm-Körper-Verwebung