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ERRATA VOCOLOGICA

10 Fehler und 7 Fazits

Heinz Stolze, April 2005, zuletzt geändert am 25.10.2012

in www.forum-stimme.de


ERRATUM 8: DER TONSTROM


8.2 Zum Sachverhalt

Die Strömung der Ausatemluft wird durch die Schwingung der Stimmlippen moduliert. Das heißt, sie wird an der Stelle der Glottis (Öffnung zwischen den Stimmlippen) mal unterbrochen, mal durchgelassen. Dabei entstehen Schwankungen des Druckes, die sich als Schallwelle ausbreiten. In der Schallwelle breitet sich ein räumliches Druckmuster mit Wellengeschwindigkeit aus. Dabei bewegt sich nicht das Material (die Luft), das das Muster an einer Stelle bildet mit dieser Geschwindigkeit, sondern nur das Muster. Das Material selbst bleibt - von mikroskopischen Bewegungen abgesehen- in Ruhe oder strömt vergleichsweise langsam.

Um dies anschaulich zu machen, ist ein stark vereinfachtes Bild der Schallentstehung an der Glottis hilfreich, das Federmodell. Wir stellen die akustischen Eigenschaften der Luftsäule von der Luftröhre bis zum Mund durch eine Spiralfeder dar. Sie symbolisiert die Elastizität der Luft sowie deren Massenträgheit. Das Modell beschreibt natürlich keine Feinheiten der Strömung oder des Schalles sondern das Prinzip der Schallentstehung aus einer modulierten Strömung. Es dient dazu, den Unterschied zwischen Welle und Strömung klar erkennbar zu machen (Abbildung).

8.1 Die Aussage

Der Begriff des Tonstroms wird im pädagogischen Bereich gern im Sinne einer Wahrnehmung benutzt. Für nüchtern denkende Wissenschaftler aber ruft der "Tonstrom" durch das Ansatzrohr eher den Eindruck hervor, daß man nicht so recht zwischen Schallwelle und Luftströmung unterscheiden könne. Hier lohnt sich nicht nur eine Klarstellung auf begrifflicher Ebene sondern auch eine grundlegende Klärung von Fragen interdisziplinärer Kommunikation. Bei genauerer Betrachtung kommt man auch zur Frage, wie gut die Schallerzeugung im Kehlkopf wirklich verstanden ist und allgemein verständlich publiziert wird.


Die blau gezeichnete Spiralfeder stellt die Luft dar. Sie bewegt sich mit einer Strömungsgeschwindigkeit im Bereich von einigen Metern pro Sekunde nach oben (blauer Pfeil). Die Abbildung zeigt vier Zeitpunkte.
a: Die Stimmlippen sind offen, die Feder schiebt sich nach oben (=Luft strömt nach oben).
b: Die Stimmlippen haben gerade geschlossen. Die Bewegung der Feder in der Glottisebene ist blockiert. Da die Feder in Schwung ist, bewegt sie sich oberhalb und unterhalb der Glottisebene weiter. Dabei kommt es unterhalb zu einer Stauchung, oberhalb zu einer Dehnung der Feder, erkennbar in der Zeichnung der folgenden Phase.
c: Die Stauchung unten entspricht bei der Luft einer höheren Teilchendichte, also höherem Druck, die Dehnung oben entspricht einem erniedrigten Druck.
d: Die Situation nach der Öffnung, nachdem die Feder als Ganzes gegenüber der Phase c ebenso viel weiter gerückt ist wie zwischen den vorherigen Phasen. Die Verschiebungsstrecke entspricht der Länge des blauen Geschwindigkeitspfeiles. Das Dehnungs-Stauchungs-Muster (grün-gelb markierte Zone) hat sich auf der Feder aber viel schneller ausgebreitet, es läuft als Welle nach oben (und nach unten - nicht dargestellt). Seine Geschwindigkeit ist die Wellengeschwindigkeit - in Luft ca. 340 Meter pro Sekunde. Das Federmaterial, das das Muster im Moment c bildete ist nur ein wenig nach oben gekommen, das Muster selbst wird nun aber von anderem Material viel weiter oben dargestellt.

8.3 Diskussion

Luftströmung und Schall lassen sich beim Singen und Sprechen wahrnehmen. Sie sind eng miteinander verknüpft. Somit ist es nicht erstaunlich, daß das Gefühl eines Tonstromes auftritt, und äußerst wirkungsvoll für eine gute Stimmbildung genutzt werden kann. Alles was unvoreingenommen im Zusammenhang mit diesem "Tonstrom" wahrgenommen wird, ist grundsätzlich richtig und als Wahrnehmung Realität. Als solche ist sie bestens geeignet, den Prozess der Stimmbildung weiterzuentwickeln. Das Problem beginnt, wenn dieser Tonstrom physikalisierend erklärt wird, so als ob diese Wahrnehmung sozusagen eins zu eins physikalische Realität sei. In vielen Fällen solcher Erklärungen kommt auch unübersehbar die Tatsache zum Tragen, daß die Vorstellungen der Erklärenden von Physik (Mechanik, Akustik) und ihren Denkweisen nicht mit dem Original übereinstimmen. Insbesondere entzieht sich das Verhalten von Wellen dem Zugriff des einfachen gesunden Menschenverstandes, wohl weil es im allgemeinen nicht direkt beobachtbar ist. Diesbezüglich ergibt sich eine zentrale Einsicht: wer nicht so recht weiß, was eine Schallwelle ist, wird wohl kaum erklären können, wie der Stimmschall entsteht - jedenfalls nicht auf physikalischer Ebene.

Ein grundlegender Unterschied zwischen Strömung und Welle ist der folgende:

Die Geschwindigkeit einer Strömung hängt von Druckgefälle und Strömungswiderstand ab. Damit sich ruhendes Material in Bewegung setzt, muß es angeschoben werden.

Die Geschwindigkeit einer Welle ist durch die Materialeigenschaften gegeben. In Luft ist sie für eine Schallwelle etwa 340 Meter pro Sekunde(hängt ein wenig von der Temperatur ab). Damit sich ein plötzlicher Druckanstieg an einer Stelle als Welle ausbreitet, bedarf es keiner "anschiebenden" Kräfte.

Beispiel: ein Luftballon platzt. An der Stelle des Ballons befindet sich komprimierte Luft (höherer Druck), die sich nun, nachdem die Hülle sie nicht mehr zusammenpresst nach außen bewegt und dort Moleküle anstößt. Ein Molekül aus dem Ballon, das ein anderes nach außen gestoßen hat, wird selbst wieder zurückreflektiert. So wandert die "Stoßerei" nach außen, die Moleküle wandern aber nicht mit. Ein zusätzliches "Anschieben" der Welle ist nicht nötig.

Diese Einsicht ist oft beim Singen und Sprechen hilfreich. Es muss zwar die Atemluft in Bewegung gesetzt werden, damit im Kehlkopf Schall entstehen kann, dieser bewegt sich aber ganz von allein und sehr schnell weiter. Ob man mehr oder weniger drückt, hat praktisch keinen Einfluss auf die Schallausbreitung vom Kehlkopf nach außen.

Ein aus heutiger Sicht etwas seltsam anmutendes Beispiel zur Auseinandersetzung um den Tonstrom finden wir in einem viel gelesenen Buch über Stimme und Sprache. Der Autor kritisiert die in Sängerkreisen berühmte Darstellung der Anschlagstellen nach Lilli Lehmann. Sie beschreiben Vibrationsempfindungen am Gaumen, deren Position von der Tonhöhe abhängig ist. Ein pädagogisch offenbar wirksames Modell, das insofern die Kritik des Autors hervorruft, als diese Stellen durch die Reflexion von "Schallstrahlen" entstehen sollen. Sie bilden sozusagen einen Tonstrom, der an den Wänden des Vokaltraktes reflektiert wird. Der Autor weist darauf hin, daß bereits ein Kollege solchen falschen Vorstellungen vor 50 Jahren entgegentrat und gibt den Hinweis, daß von einer Reflexion der Schallwellen im Ansatzrohr nicht die Rede sein kann. Damit schüttet er das Kind mit dem Bade aus, denn die Reflexion der Schallwellen im Vokaltrakt ist das A und O der Vokaltraktakustik. Die Schallwellen werden als solche reflektiert, die Reflexionen überlagern sich und breiten sich weiter aus. Nur läßt sich dieses Geschehen nicht so wie die Reflexion von Lichtstrahlen in einem optischen Gerät beschreiben. Die Beschreibung von Wellenformen durch Strahlen ist eine Vereinfachung, die nur funktioniert, wenn die Wellenlänge wesentlich kleiner ist als die Abmessungen der reflektierenden Bereiche. Die Wellenlänge des Lichtes liegt im Bereich von 5 / 10 000 000 Meter, die des Schalls der Sprechstimme (Grundfrequenz) im Bereich um 1 bis 4 Meter). Die reflektierenden Bereiche im Vokaltrakt haben Abmessungen in der Größenordnung von Zentimetern.
Also kurz: Reflexion: ja sicher - aber Beschreibung durch "Strahlen": nein.

Unklarheiten über Stömung und Schall äußern sich auch in folgendem Beispiel. In einem Expertenaufsatz wird behauptet, daß sich über der Glottis eine "aufwärts gerichtete Pendelströmung entladen" könne. Offenbar ist die Schallwelle damit gemeint.
Im Mikroskopischen (Bewegung der Moleküle) kann Schall zwar sozusagen als Pendelbewegung gesehen werden. Es ist aber unphysikalisch, diese Bewegung als Strömung zu bezeichnen. Ob der Begriff des "sich Entladens" dabei wohl die Ausbreitung nach oben bedeuten soll?

Auch folgende Vorstellung ist verbreitet: Vom Kehlkopf aus läuft eine (primäre) Welle durch den Vokaltrakt und wird dabei so "überformt", daß am Mund ein Schall mit diesem oder jenem Klangspektrum austritt. Damit wird die Bildung der verschiedenen Laute erklärt. An einer (einzelnen vorwärtslaufenden) Welle kann man nun aber formen und quetschen wie man will, ihre Frequenzzusammensetzung wird man dadurch nicht wesentlich ändern. Die Vorstellung der Überformung ist eigentlich typisch für Strömungen, zum Beispiel in Nudelmaschinen oder Sahnedüsen. Die Querschnittsform der Düse überträgt sich auf den Sahnestrang. Der tatsächlich ablaufende Prozess vielfacher Reflexionen im Vokaltrakt wird durch den Begriff des Überformens eher unglücklich und mißverständlich bezeichnet.

Im Zusammenhang mit diesem Thema ist es bemerkenswert, daß in Büchern über die Stimme, die sich auch mit deren Produktion im Kehlkopf beschäftigen, eine klare Darlegung des Prozesses fehlt. Stattdessen werden eher Beschreibungen benutzt, die ohne nähere Erklärung die Existenz einer Schallwelle über der Glottis behaupten (z.B. das Primärklang-Filter-Modell). Direkt über der Glottis laufen bei der Energieübertragung von stömender Luft in Schallwellen komplexe Prozesse ab. Es ist akzeptabel, daß darüber in allgemein verständlichen Büchern nichts Näheres geschrieben wird. Es sollte aber dennoch dort erwähnt werden, daß die übliche Beschreibung des Geschehens durch eine (ebene) akustische Welle und eine Luftströmung erst ein Stück oberhalb der Glottis zutreffend sein kann. Besser wäre es aber schon, auch die Vorgänge direkt über der Glottis zu beschreiben. Wenn dies phänomenologisch orientiert geschieht, ohne daß komplexe Theorien herangezogen werden, wird das sicher auch viele Praktiker der Stimme interessieren.



8.4 Zusammenfassung

Ton und Strom klingt zwar passig, und der Tonstrom ist als Wahrnehmung unanfechtbar und hilfreich. Die meisten genaueren Erklärungen dazu sind i.a. für die Anwendung unnötig und physikalisch unrichtig. Eine verständnisvolle Diskussion zwischen den Tonstromanwendern und den Experten für Töne (Wellen) und Ströme (Strömung) würde die praktische Anwendung sicher verfeinern und verbessern. Es ist derzeit unübersehbar, daß auch im Bereich der Expertenliteratur (Sachgebiet Stimme, interdisziplinär verständliche Bücher und Zeitschriften) ausgeprägte Seltsamkeiten zu diesem Thema vorliegen. Offenbar markieren die Begriffe "Strömung" und "Schallwelle" eine schwer überwindbare Grenze zwischen den Disziplinen.


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