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ERRATA VOCOLOGICA

10 Fehler und 7 Fazits

Heinz Stolze, Oktober 2004, letzte Änderung am 19.7.2007

in www.forum-stimme.de


ERRATUM 3: DAS AUFSPRENGEN DER STIMMLIPPEN ALS WESENTLICHER BEITRAG ZUM ANTRIEB DER STIMMLIPPENSCHWINGUNG


3.1 Die Aussage
In der Phase der geschlossenen Stimmlippen wirkt von unten ein Überdruck auf sie ein, der sie nach oben hin "aufsprengt" und damit einen wesentlichen Beitrag (Energieeintrag) zum Schwingen der Stimmlippen liefert. Verbunden damit ist die Idee, daß der transglottale Druck (Druckunterschied zwischen dem Bereich unterhalb und oberhalb der Stimmlippen) die Stimmlippenschwingung mit Energie versorgt.

3.2 Zum Sachverhalt
Sicherlich ist ein Aufdrücken in vertikale Richtung durch den Luftdruck von unten möglich. Die so ausgelöste Bewegung könnte durch Umlenkung einen Beitrag zum Schwingen der Stimmlippen in der horizontalen Ebene liefern. Dieser wäre jedoch eher marginal. Eine nach oben (vertikal) wirkende Kraft kann der im wesentlichen horizontal ablaufenden Stimmlippenbewegung nur wenig Energie zuführen. Ein Teil der Stimmlippenkante gibt dem Druck durch eine vertikale Bewegung nach, wird dabei aber normalerweise keinesfalls besonders strapaziert und führt eher eine "runde" Bewegung aus, die nichts mit einem "Gesprengtwerden" (Materialzerstörung) zu tun hat. Der Druck unter den Stimmlippen bewirkt immer eine Kraftkomponente in Öffnungrichtung: auf die rechte Stimmlippe nach rechts, auf die linke nach links. Wenn die Glottis offen ist (z.B. in Phase 4 des Bildes) und die Stimmlippen auseinandergehen, ist diese Kraft als Antrieb wirksam.
Bekanntlich wird dieser Anschub in der Schließphase wieder weitgehend kompensiert, da die Stimmlippen sich nun gegen die Druck-Kraft bewegen (Phase 6), durch sie also gebremst werden, das heißt: Energie wird der Schwingungsbewegungn entzogen. Die Stimmlippenschwingung nimmt trotzdem über eine Schwingungsperiode gesehen Energie aus dem Luftstrom auf, weil in der Phase des Schließens die Luft schneller durchströmt (sie hatte Zeit, um in Schwung zu kommen) als direkt nach dem Öffnen (sie muß erst aus der Ruhe in Bewegung gesetzt werden). Die schnellere Strömung führt zu einem höheren strömungsbedingten Unterdruck (Bernoullieffekt).
Es gibt drei Kräfte, durch die sich die Stimmlippen, nachdem sie einmal schwingen, wieder voneinander trennen, ohne daß es des Aufdrückens in vertikaler Richtung von unten her bedarf. Zum einen die elastische Rückstellkraft (sofern sie so eingestellt sind, daß sie über ihre Ruhelage hinaus aufeinander zu schwingen), zum zweiten die Stoßkräfte (bedingt durch elastische Verformung), die beim Aufeinanderstoßen zu gegenseitiger Reflexion führen, zum dritten die Verformung der Stimmlippenkanten, die nach dem Schluß unten eine konische Öffnung einstellt, so daß der von unten anliegende Überdruck auch in seitlicher Richtung auseinanderschiebend auf die Stimmlippen einwirken kann.

3.3 Diskussion
3.3.1 Physikalische Modellierung der Stimmfunktion: Der vertikale Antrieb durch den subglottalen Druck wird in physikalischen Modellen der Stimmfunktion im allgemeinen gar nicht berücksichtigt, da er für unbedeutend gehalten wird. Die konische Ausformung nach unten hin, die durch den Druck von unten mitgeformt wird, spielt dagegen eine große Rolle für einen guten aerodynamischen Antrieb der Stimmlippen. Der bekannte und anerkannte Stimmforscher Ingo Titze meint, generell sollte die Vorstellung, daß der transglottale Druck die Stimmlippenschwingung antreibt, fallengelassen werden. Er weist darauf hin, daß diese Vorstellung in der "phonetic science" verbreitet sei, daß sie aber allenfalls für einen trivialen Sonderfall diskutabel wäre und befindet wörtlich: "In general, the notion of transglottal pressure driving the vocal folds should be abolished." (Titze, I., (1988): "The Physics of small-amplitude oscillations of the vocal folds", J. Acoust. Soc. Am. 83(4), 1536-1552).

Die saugenden Antriebskräfte lassen sich übrigens gut erleben, wenn man zunächst auf einen Hauch ausatmet und dann die Stimme langsam einsetzen läßt.


3.3.2 Unpassende Wortwahl:
Man mag es als etwas zimperlich abtun, aber ich finde dennoch, heutzutage sollte man nicht von "Sprengung" im zarten Bereich des inneren Kehlkopfes sprechen. Sprengungen führen normalerweise zu Materialzerstörung und so etwas ist beruhigenderweise nicht einmal bei lautestem Brüllen der Fall. Im 21. Jahrhundert sollte in unseren Kehlköpfen nichts mehr aufgesprengt werden!

3.3.3 Stimmdidaktische Auswirkung:
Vergleichen Sie die korrekte Vorstellung mit dem Aufsprengen. Welches Funktionsbild führt wohl zu besserer Stimmfunktion?
Korrekt: Der Überdruck unter der Glottis löst eine Luftströmung aus, die dann mit ihren Saugkräften (die in der Schließphase stärker sind als in der Öffnungsphase) den wesentlichen Beitrag zum Antrieb der Stimmlippen liefert. Zudem treibt der durch den subglottalen Druck erhöhte Druck zwischen den Stimmlippen deren Bewegung in der Öffnungsphase an, bremst sie aber in der Schließphase ab.
Die gesangspädagogisch verbreitete Vorstellung des Saugens (oder auch Lufteinziehens) beim Singen mag unter diesem Aspekt in neuem Licht erscheinen.

Schnitt durch die Stimmlippenmitte, Aufsicht von vorn.

1 bis 5: Öffnungsphase,
5 bis 9: Schließphase

Pfeile schwarz: einwirkende Kräfte
Pfeile weiß: Bewegungsrichtung
Pfeile blau: Luftströmung

1: Stimmlippen geschlossen, Bewegungswende
Wendemoment von vorhergehender Schließphase zu nun beginnender Öffnungsphase. Der Luftdruck von unten wirkt naturgemäß in alle Richtungen, die Krafteinwirkung ist somit tangential zu den Oberflächen (schwarze Pfeile). Die "Randkanten" erfahren eine Kraft nach oben. So kommt es zu einer Vertikalbewegung dieser Ränder (siehe Folgephasen 2,3). In der physikalischen Modellierung wird das im allgemeinen so beschrieben, daß die Stimmlippen als ganze sich horizontal bewegen und auf ihren Kanten zusätzlich eine "Welle" auf und ab läuft.
In der nach unten konischen Öffnung hat die einwirkende Druckkraft (schräger schwarzer Pfeil) überall eine in horizontaler Richtung aufdrückende Komponente.

2: Öffnungsbewegung

Die Stimmlippen bewegen sich voneinander weg (weiße Pfeile), der Durchgang (die Glottis) ist aber noch nicht geöffnet, da gleichzeitig eine Formänderung an den Rändern eintritt. Verformungen, die beim Aufeinandertreffen eintraten, bilden sich zurück, wobei zusätzlich der Druck von unten die Gestalt mitmoduliert.

3: Öffnungsmoment

Moment, in dem die Glottis geöffnet wird, danach beginnt die Luftströmung nach oben.

4: Glottis offen, Stimmlippenbewegung weiter öffnend

Die Strömung (blauer Pfeil) durch die Glottis ist "gut in Fahrt gekommen".
5: Wendemoment zur Schließbewegung
Die Strömung durch die Glottis hat sich weiter beschleunigt, der Strömungskanal ist weiter aufgegangen. Die Luftströmung erzeugt nun einen erheblichen Sog (wie eine Wasserstrahlpumpe). Die Öffnungsbewegung ist zum Stillstand gekommen, die Schließbewegung beginnt.
6: Schließbewegung
Die Randkanten bewegen sich nun in keinen "Wellenhügeln" sehr schnell aufeinander zu. Dabei verengen sie den Strömungskanal, die Strömungsgeschwindigkeit darin erhöht sich, damit auch die Saugkraft, die die Schließbewegung der rechten und linken "Ausbeulung" entsprechend stärker beschleunigt. Der Strömungskanal wird noch enger, die Geschwingigkeit noch höher etc.. Da nicht die gesamte Stimmlippe mitkommt, muß nur eine kleine Masse bewegt werden, so daß auch deshalb die Bewegung sehr schnell werden kann. Voraussetzung ist dabei, daß die Bindung der hier vorschnellenden Schleimhaut an die Unterlage nicht zu fest ist. Eine gut bewegliche Schleimhaut führt ähnlich wie eine Gummidichtung zu einem sauberen und sehr schnellen Verschluß. Dieser wiederum führt zu kräftiger Lautstärke und einem starken Anteil an hohen Frequenzen im Schallspektrum. Diese geben der Stimme Helligkeit und Tragfähigkeit.
7: Schlußmoment

Die Glottis ist jetzt (an dieser Stelle des Querschnittes) geschlossen.
8: Verbreiterung der Kontaktfläche
Der massive Teil der Stimmlippen bewegt sich weiter aufeinander zu, die Kontaktfläche beider Stimmlippen vergrößert sich.
9=1 Stimmlippen geschlossen, Bewegungswende

An der Kontaktfläche sind die Stimmlippen verformt, ähnlich wie ein Ball, der auf eine Wand aufgetroffen ist. Seine Elastizität führt zu Kräften, die die Verformung rückgängig machen und den Ball letztendlich von der Wand abstoßen. Wenn die Wand auch elastisch ist, wird sie ebenso verformt und entwickelt damit eine zurückstoßende Kraft. Dies ist auch bei den Stimmlippen der Fall. Je nach Konsistenz und Einstellung der Muskelspannungen verhalten sie sich mehr oder weniger elastisch. Die auftretenden Kräfte, die die Bewegungswende zum Öffnen hin mit einleiten, sind schwarz eingezeichnet.


Hinweis: Diese Darstellung beschreibt das sogenannte Modalregister (Bruststimme), das von Erwachsenen üblicherweise zum Sprechen benutzt wird.

Zudem ist zu bedenken: Die Stimmlippen werden sozusagen zum Öffnen hingehalten. Ihre Form, die innere Spannung, der Druck, den sie aufeinander ausüben, das alles wird genau abgestimmt mit dem Luftdruck, der unter ihnen aufgebaut wird. Und zwar so, dass eine Schwingung in der gewünschten Qualität entsteht. Ein derart fein abgestimmter Prozess hat mit der Sprengung eines gänzlich passiven Objektes nichts zu tun.

3.4 Zusammenfassung
Nachdem wir bei der Stimmgebung keine Teile innerer Organe aufsprengen möchten, dürfen wir uns auch getrost von der Idee verabschieden, daß der transglottale Druck auf direktem Weg die Stimmlippenschwingung durch Öffnen in vertikaler Richtung maßgeblich antreibt. Während der Öffnungsphase spielt der Luftdruck unterhalb der Glottis eine wichtige Rolle, wobei er vor allem seitliche, aufschiebende Kräfte bewirkt. Während der Schlußphase bremst er die Stimmlippenschwingung. In der Bilanz einer gesamten Schwingungsperiode kann er der Stimmlippenschwingung praktisch keine Energie zuführen, diese also nicht antreiben. Der Antrieb beruht im wesentlichen auf dem Sog, der durch die schnelle Luftströmung beim Schließen entsteht und die Stimmlippen zusammenzieht. Die Fähigkeit der Stimmlippen, ihre Form erheblich zu verändern, ermöglicht eine optimale Aufnahme von Energie aus dem Luftstrom. Für diese Formveränderung ist eine gute Beweglichkeit der Schleimhaut auf der Oberfläche der Stimmlippeninnenseiten unabdingbar.

weitere ERRATA VOCOLOGICA
Eine neuere Darstellung der Funktion der Stimmlippenschwingung finden Sie unter > Stimmfunktion