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Wissenschaft - Journal - Praxis


7 1/2 KINDERSZENEN

Von fremden Ländern und Menschen

Bittendes Kind - Glückes genug

Wichtige Begebenheit

Träumerei

Fürchtenmachen

Kind im Einschlummern

Der Dichter spricht

> Hauptseite der Dokumentation


Text-Musik-Assemblé mit 8 Klavierstücken aus Robert Schumann, Opus 15

Text und Arrangement: Heinz Stolze


Anmerkungen zu den einzelnen Stücken

Heinz Stolze, 23. Dezember 2005, ergänzt am 16.2.2006, überarbeitet am 15.8.2011

Tipp Fachbegriffe: Wenn Sie sich näher über genannte Komponisten, Poeten, Wissenschaftler informieren möchten, oder Fachbegriffe nachschauen möchten, empfehlen wir: wikipedia (Wort im Suchfeld am linken Rand eingeben, Button "Suche" anklicken)


VON FREMDEN LÄNDERN UND MENSCHEN

Weit jenseits des Meers möchte ich sein,
jenseits der Berge,
jenseits der Sterne.

Wie ein Vögelein hoch in den Lüften ziehn,
überall, allüberall flöge ich hin.
Hin.


Geschichten aus Atlantis, Afrika oder China interessieren Kinder ganz besonders. Offenbar fasziniert sie Fremdes und Andersartiges mehr als die meisten Erwachsenen oder zumindest auf andere Weise. Dazu hier eine unverbindliche Deutung, die sich auf das Erwachsenwerden bezieht.

Die Entwicklung der Kleinkinder besteht nicht nur in Hinzulernen. Sie besteht auch darin, kulturell geprägte Verhaltensweisen zu lernen und dabei vorhandene Fähigkeiten abzubauen. Dazu ein Beispiel aus dem Spracherwerb: Säuglinge vor der Sprechphase können durchaus Sprechlaute unterscheiden, die ihre Eltern nicht unterscheiden können. Beispielsweise können chinesische Kleinkinder l und r als verschieden erkennen. Das Verlernen solcher nicht benötigter Fähigkeiten ist offenbar nötig, um sich in einer Sprache, der Muttersprache, gut zurechtzufinden. Die Notwedigkeit des Verlernens von Fähigkeiten ist generell für die kulturelle Entwicklung unabdingbar.

Basierend darauf sei folgende These aufgestellt: Kinder haben tief in ihrem Inneren eine Empfindung dafür, daß sie viele Entwicklungsmöglichkeiten aufgeben mussten. Sie ahnen, daß sie auch in gänzlich verschiedenen Kulturen leben könnten. Sie sehnen sich danach, wenigsten etwas über diese zunächst verlorenen fremden Länder und Menschen zu hören. Am schönsten wäre es, nicht so viel aufgeben zu müssen und frei wie ein Vogel hier und da sein zu können.

In diesen Vorstellungen ist das andere Mögliche örtlich abgetrennt. Hier ist das eine - das meine- Land, dort ein anderes. Dieses Motiv findet im Text zum letzten Stück "Der Dichter spricht" einen Kontrapunkt. Für ihn ist alles verdichtet: Alles in Einem und Eins in Allem. Die (später folgende) Anmerkung zu diesem Stück wird darauf eingehen, daß diese Gegenüberstellung keineswegs so widersprüchlich ist, wie es zunächst scheinen mag. Dabei werden wir auf die Theorie der Darstellungen eingehen, die für die Beschreibung der menschlichen Wahrnehmung elementar ist.

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BITTENDES KIND

Eine Schaukel möcht´ ich kriegen!
Bitte, bitte, bittebitte.
Damit könnt´ich ganz hoch fliegen!
Bitte, bitte, bittebitte.
Bi-tte.


Auf der Schaukel kannst du hoch fliegen. So hoch, daß du nur noch den Himmel siehst und deine Füße darin. Es folgt der Rückfall, du kennst die Bahn, aber siehst sie nicht, fühlst die schnelle Passage durch den tiefsten Punkt und das folgende Hochsteigen - ein kurzes Stehenbleiben in der Luft - dann saust du - Füße vorweg- auf die Erde zu. Es drückt von unten, das Seil wird straff, jetzt geht es mit höchster Geschwindigkeit voran, und wieder katapultiert dich die Schaukel in den Himmel hinauf und hinein in den kurzen und doch so genußvoll langen Moment des freifliegenden Wendens - der Körper hebt ab vom Sitz, die Seile hängen schlaff und wieder kommt der Rückfall...

Nochmal! Nochmal! Nocheinmal! - wer kennt diesen kindlichen Ausruf nicht? Diesen Ausruf, so überzeugt davon, daß er auch Erfüllung finden muß, so voll Freude über ein harmloses Erlebnis. Wem wäre diese andauernde Wiederholerei besser gelgen als einer Schaukel? Wer könnte so perfekt den schnöde monotonen Vorwärtslauf der Zeit überwinden?
Vor allem, wenn der Vater dahintersteht und im richtigen Moment immer wieder Anschwung gibt. Dann folgt auf Nähe und Berührung der Flug hinweg und hinauf in den Himmel, ins blaue Weite, in sicherem Bewußtsein der Wiederkehr, die dich in blind vertrauendem Rückwärtsfliegen schließlich zum nächsten Anstoß hebt.

Und ohne Anstoßer: Da hilft man sich selbst. Durch geschicktes Schwingen der Beine: nach hinten, kurz nachdem der Rückflug eingesetzt hat - nach vorne, kurz nachdem es wieder vorangeht. So ganz ohne Bodenkontakt kann man sich aufschaukeln. Ein unerhörtes Erlebnis - zumal selbst die Eltern wohl kaum so richtig erklären können, wie das funktioniert!
Ernüchternder Hinweis: wer frei in der Luft hängt, kann mit den Beinen vor und zurückwackeln, soviel er mag. Der Massenmittelpunkt seines Körpers bleibt auf der Stelle stehen. Anders gesagt: genausoviel Schwung wie er einem Teil des Körpers in eine Richtung gibt, gibt er dem Rest des Körpers in die entgegengesetze Richtung (Satz von der Erhaltung des Impulses).

Auch der Erwachsene weiß, daß man sich auf der Schaukel aus dieser Welt ein wenig oder auch ganz gewaltig herausschaukeln kann. Das regelmäßige Hin und Her beruhigt und bringt einen auf andere Gedanken. Die ziemlich genau sinusförmige Vor-und Rückbewegung ist übrigens das Basiselement einer echten Alternative zu unser Denkkategorie der Zeit. Ich will damit sagen, daß man die Änderungen, die Dinge erfahren, nicht unbedingt als zeitlich auffassen muß. Im mathematischen Sinne ist die Auffassung des Änderungsgeschehens als eine Summe von Schwingungen genau so gut. "Im mathematischen Sinne" heißt: das Ergebnis ist dasselbe, egal ob ich die Änderung als eine zeitliche Abfolge von Einzelzuständen (Momenten) oder eine Summe von Schwingungen darstelle. Näher ausgeführt ist dies unter > Darstellungen. Somit wäre die Zeit keine Gegebenheit per se, sondern eine Denkkategorie, die eben keinesfalls die einzig mögliche ist. Kein Wunder, wenn das Schaukeln mitunter ein wenig schwindlig macht :-).
Für das Hören und die Beschreibung von Stimmschall spielt die Darstellung als Schwingungen (Frequenzdarstellung) eine wichtige Rolle. Apropos Stimme: die Schaukel ist der Modellfall für Resonanz, diese spielt bei der Stimmfunktion eine große Rolle (> Resonanz). Wer das Wort "schaukeln" ausspricht, schaukelt den Schall der Stimme bei allen stimmhaften Lauten in seinem Vokaltrakt auf, also beim a, beim u, beim e, beim l , beim n.

Die Schaukel ist nicht nur ein reales Objekt - vorwiegend für Kinder gemacht. Die Schaukel als Abstraktion, also die Schwingung, ist eine Basiskategorie zum Verstehen der Welt. Wohl dem, der eine solche Schaukel "kriegen" möchte und bekommt. Und das, was der Dichter spricht, hat übrigens auch damit zu tun.

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WICHTIGE BEGEBENHEIT

Du schau doch hin, was dort kommt!

Dort stürmen drei goldene Ritter herbei!
Sie kommen immer näher und gleich sind sie da!

Du schaust, daß du jetzt deine Zähne putzt!
Dann stürmst du dort ins Bett husch, husch!


Wer kennt nicht den gebannten Blick auf bisher Unbekanntes oder das ernst erregte "da, da". Da reagieren die Eltern, wenden sich dem Kind zu und erklären. Früher oder später lernt der Sproß, solche Erregung zu simulieren, um Aufmerksamkeit zu erlangen, auch um das Schlafengehen hinauszuzögern. Man nehme dies ernst aber auch mit Humor. Und nach dem Zahnputz und dem Husch ins Bett wird man ja gemeinsam diese und jene Begebenheiten passieren lassen und dabei mag der Papa seinerseits dies oder das ein wenig aufbauschen. Siehe dazu: Was es denn wohl mit den Zwergen auf sich hat? (Fürchtenmachen)

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TRÄUMEREI

Du sagst... (Das Klavier spricht) stets und alle Zeit.
Du sagst ... (Das Klavier spricht) bis in die Ewigkeit.

Wenn auch ... (Das Klavier spricht)
Ich glaub´ und hoff´ und habe lieb.

Du sagst ... (Das Klavier spricht)
Du sagst ... (Das Klavier spricht)
Ja so soll es - soll es sein.


Nach einem soliden Auftaktsprung hebt die Melodie ab und gleitet hoch hinauf in ein fast zeitlos schwebendes Verweilen aus dem sie wie im Flug einer Feder in segelnden Bögen wieder hinab driftet. Der dritte und letzte Abgleitbogen verlängert sich in ein anhaltendes Ausgleiten, während die Begleitstimme die Wende zum nächsten Aufschwung einleitet. Das Kind träumt, die Mutter oder der Vater schaut zu - vielleicht auch beide. Aufschweben und Abschweben wiederholen sich in einer etwas höher ausgreifenden Bewegung. Die Feder kann sich nun länger oben halten, während Schattenenwürfe abwärts sinken.
Nach dieser Exposition folgt eine Durchführung: Über den beiden Schwebebögen scheint das Licht wie von einer trüben Wolke verdunkelt, im Abgleiten verdichtet sich ein pochendes Motiv, unter dem Feder und Schatten sich verranken wie ernst ineinandergreifende, pulsend aufsplitternde Gedankenlinien.
Und dann die Reprise mit modifiziertem zweiten Bogen und großem Ritardando im Zenit und auf dem folgendem Segelflug auf klarer Linie, dem ein ruhender Ausklang in geborgene Gewissheit folgt.

Im Text lassen wir offen, worum genau es geht. Das Klavier "spricht" und drückt ohne Worte etwas aus, das stets aktueller ist als fixierter Text. Einmal dies, einmal das, und doch ist es immer wieder der Ausdruck desselben, nicht formulierbaren Kerns.

Und wenn beide Eltern das träumende Kind betrachten, mag es in den unausgesprochenen Passagen ja auch um ihre Beziehung zueinander gehen.


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FÜRCHTENMACHEN

Was es denn wohl mit den Zwergen auf sich hat?
Sind sie bös - oder sind sie lieb?
Gibt es sie, oder huschen nur Mäuslein im Boden?

Da, schau hin!
Da ist der Kater dazwischengegangen!
Ob die Armen sich wohl wieder hervortrauen?
Schau sie dir an, die Kleinen,
sie lassen sich nicht schrecken!

Was es denn wohl mit den Zwergen auf sich hat?
Hast Du´s gesehen und auch behalten?


Kinder haben nicht nur Sehnsucht nach fremden Ländern und Menschen, sondern auch nach dem Transzendenten. Seien es nun Zwerge, Gnome, Zauberer ...

Zur Zeit unserer Großeltern und insbesondere zu Zeiten Schumanns war es üblich, daß Erwachsene Phantasiefiguren erfanden, um Kinder gefügig zu machen. Wie sonst sollte man den Titel "Fürchtenmachen" sonst verstehen? Lassen wir mal die drohende Gebärde beiseite, um uns umso offener mit der Welt der Zwerge (und Co) zu beschäftigen. Stehen sie nicht für etwas, was in der ernsten Normalität fehlt, für etwas, was so sehr vernachlässigt wird, daß die Kinder es geradezu aufsaugen? Offenbar ist der Bedarf nach Zauberwelten groß und wird, wie der millionenfache Absatz entsprechender Romane zeigt, in großem Stil kommerzialisiert. Wäre es womöglich nicht noch zauberhafter, mehr auf die Kinder selbst zu hören, ihnen weniger ausgefeilte Vorgaben (Filme) zu machen und nachzufragen, was sie "gesehen" haben? Oder mit ihnen zusammen Phantasiewelten aufzubauen und zu erkunden. Wer das tut, wird sich bald fragen: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Das Buch dieses Titels von Paul Watzlawick zeigt uns aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive deutlich auf, daß das, was wir gemeinhin für wirklich halten, oft gar nicht objektiv existent ist. Und das, was zunächst wie reine Phantasie aussieht, hat doch zumeist einen Bezug zur Wirklichkeit und kommt nicht von ungefär in unseren Kopf, sondern aus gutem Grund - es sei denn es wird kommerzialisiert eingetrichtert. Kinder könnten uns tatsächlich mehr Klarheit verschaffen, über das, was wir wirklich für wirklich halten sollten. War es nicht ein Kind, das des Königs neue Kleider als Nichts erkannte?

Betrachten wir einmal das Motiv der Sichtbarkeit und Flüchtigkeit von Zwergen und Geistern: Die Heinzelmännchen (Gedicht von August Kopisch, 1799-1853) schaffen in Köln ein Paradies. Sie dürfen aber nicht gesehen werden. Als sie auf den Erbsen des neugierigen "Schneiders Weib" ausrutschen, verschwinden sie und kommen nimmer wieder.

Neugierig war des Schneiders Weib,
und macht sich diesen Zeitvertreib:
Streut Erbsen hin die andre Nacht.
Die Heinzelmännchen kommen sacht;
eins fährt nun aus,
schlägt hin im Haus,
die gleiten von Stufen
und plumpen in Kufen,
die fallen
mit Schallen,
die lärmen und schreien
und vermaledeien!
Sie springt hinunter auf den Schall
mit Licht: husch husch husch husch!- verschwinden all.


Die Zwerge sind bekanntlich nachts unter den Wurzeln im Wald tätig und wenn sie Gutes im Hause tun, wollen sie nicht beobachtet werden. Deshalb haben sie ja auch Tarnkappen, zumindest im Prinzip. Sie werden sehr böse, wenn sie -etwa weil ihr Bart sich eingeklemmt hat - von Menschen gesehen werden und fuchsteufelswild, wenn man ihnen gar helfen will. Aber womöglich hinterlassen sie Spuren im Schnee. Vielleicht kennt der schwarze Kater sie und kann die Kerlchen so durcheinanderbringen, daß man sie einmal kurz sehen kann? Und wenn, dann stellt sich dieselbe Frage wie bei Träumen: was hast du davon behalten?

Dies ist ein weiteres Motiv: ein an sich verbotener Blick in andere Welten könnte im Bereich des menschlichen Normallebens unerwünschte Auswirkungen haben. So ist der Einblick zwar mitunter möglich, das Gesehene wird aber im Gedächtnis wieder gelöscht oder zumindest weitgehend unkenntlich gemacht. Im optimalen Falle bleibt ein bizarrer Rest, möglicherweise auch ein Stück mehr Weisheit. Damit wären wir wieder beim Dichter, der spricht. Ihm gelang mehr, er beteuert, daß er das Gesicht, das er hatte, behalten habe - "für immer". Es ging wohl um mehr als um fleißige Wichtel, die es den Menschen ungefragt bequem machen.


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KIND IM EINSCHLUMMERN

Dein Tag war hell und bunt.
Wellen schlug er, die nun huschen über dein Gesicht,
Wellen, deren Zünglein im Strand eines fremden Landes Linien zeichnen
und Sandkörner zu Zwergenwällen schieben
und versickernd - wiederkehren?

Dies Land ist fern, und doch so nah vor mir sein Schein.
Du magst - vielleicht - dort sein.


Schumanns Klavierstück beginnt mit einem wiegenden Motiv (lang, kurz, kurz, kurz, lang). Es startet schwebend auf der 5. Stufe des E-Moll-Akkordes mit kleiner Wellenbewegung und schwingt sich zum Schluß eine Quinte nach oben, erreicht so die formal siebte Stufe von e-Moll, die durch eine zwischenzeitlich erfolgte Modulation zur 5. Stufe in H-Dur umgedeutet wird. Bereits auf dem vorletzten Ton wird das Motiv eine Oktav höher aufgenommen und erklingt rhythmisch identisch, aber mit anderen Intervallen, wobei auf dem vorletzten Ton die untere Stimme wieder übernimmt. So schaukelt das Motiv zwischen den Oktaven in verschiedenen harmonischen Modalitäten hin und her, und sein Rhythmus durchzieht das Stück ohne Unterbrechung. Die Lage der Melodie wechselt währenddessen durch die Oktaven wie ein Gedanke durch verschiedene Schichten des Bewusstseins. Beginnend in der "normalen" Lage H3 (=h) in der linken, H4 (=h´) in der rechten Hand steigt die Melodie im Verlaufe des Stückes hinab bis auf einen Anfangston H1, von dem aus in einer Modifikation des Anfangsmotivs gar das E1 als Melodienton durchlaufen wird, ein Ton, der auf dick umwickelter Saite mit schütterem Klangfundament und gerade noch erkennbarer Tonhöhe grummelt. Im Verlaufe der Durchführung verändert sich die Sprunghöhe des letzen Motivintervalls von der Quinte des Anfangs über Quarte, Sexten (große und kleine), Septen bis hin zur Oktav.
Zusammengefasst: ein wiegendes Motiv durchläuft unter Modifikationen verschiedene Oktavlagen. Die Assoziation eines Gedankens, der beim Einschlummern verschiedene Bewußtseinsschichten durchläuft, liegt nahe.

Dabei ist ein klanglicher Aspekt bemerkenswert: Im eröffnenden Molldreiklang (hier e-g-h) überlagern sich auf dem Ton zwei Oktaven über der Quinte (hier h´´) drei Teiltöne (siehe ggf. > Glossar) der Akkordtöne (der 6. von e, der 5. von g, der 4. von h). Mit ein wenig Übung kann man dieses h´´ auch hören und zwar als schwebenden Ton (da die drei Teiltöne in ihrer Grundfrequenz leicht differieren). So schließt der Anfangsakkord bereits die höher gelegene Oktavschicht auf und gibt ihr eine fein vibrierende Aura. Dies erfolgt auf einem Ton (h´´), der als ein Zielpunkt der Motiventwicklung in dieser Oktavlage angesehen werden kann. Er erklingt in der rechten Hand beim vierten Auftreten des Motivs als letzter Ton im Oktavsprung (vorher zweimal der Quintsprung wie am Anfang, einmal ein Quartsprung, dann dieser Oktavsprung). Zudem erklingt dieses h´´ als Spitzenton in der Eröffnung der Akkordfolge, die nach dem achtfachen Auftreten des Motivs in der rechten Hand der folgenden tiefgelegenen Melodie (linke Hand) einen "Klanghimmel" aufsetzt.
Zusammengefasst: Die Anbindung der höheren Oktavlagen wird in besonderer Art durch die Klangstruktur vermittelt.

Dies gilt auch für die tieferen Lagen. An der zuletzt beschriebenen Stelle ("Klanghimmel") setzt die linke Hand mit einer offenen Quinte (E2-H2) ein. Diese ruft in der Wahrnehmung den virtuellen Baßton E1 hervor, eröffnet so die tiefere Oktav. Diese Wirkung wird durch den E-Dur-Akkord in der rechten Hand unterstützt, da alle seine Töne auf der Teiltonreihe des E1 liegen. Auch dieser Ton ist als tiefster erreichter Ton ein Zielpunkt der folgenden Modulationen.

Das Umsteigen von Schicht zu Schicht erfolgt oft über die Oktave, indem die in verschiedenen Lagen auftretenden Themen sich okatvisch überlappen, und dabei sozusagen den Staffelstab weitergeben, wie ganz oben beschrieben. Stellenweise laufen die Motive auch über längere Strecken oktavparallel. Auch beim Lagenwechsel der Hauptmelodie über die Oktave dient die Teiltonstruktur als klangliche Verbindung: die Teiltöne des höheren Tones der Oktave sind ein Auszug der Teiltöne des tieferen, nämlich die Geradzahligen. Unter diesem Aspekt kann man den höher gelegenen Ton durch Weglassen jedes zweiten (nämlich ungeraden) Teiltones des tieferen erzeugen.
Es kann somit vermerkt werden, daß die Passagen der melodischen Elemente durch die verschiedenen Oktaven mit einer besonderen klanglichen Verbindung einhergehen, die diesen weitgeschichteten Raum der Höhenlagen gut verbinden und bruchfrei passierbar machen.

Dies beruht nun auf einer Struktur der Töne, die den gegenständlichen Objekten unserer Umgebung nicht gegeben ist. Während ein Gegenstand - der Prototyp eines Objektes im Raum- uns in sich kompakt scheint, ist ein Ton -der Prototyp eines Objektes im Bereich des Schalls- eine Schichtung von miteinander unverbundenen Teilen (Teiltönen). Diese sind für das Gehör normalerweise nicht getrennt erkennbar, unter bestimmten Umständen und mit Übung lassen sie sich aber auch immer wieder einmal einzeln wahrnehmen. Ihre Ausprägung und ihr Zusammenspiel sind entscheidend für unsere Ton- und Klangwahrnehmung. Sie bilden sozusagen eine Tiefenstruktur unter der normalerweise wahrnehmbaren Oberfläche.

Die Art und Weise, wie in diesem Stück Klangstrukturen aufscheinen, kann als eine besondere Anregung zur Klangentfaltung der Sprechstimme genutzt werden. Wer zunächst einmal sein Ohr für dieses Spiel mit der Klangweite öffnet und dann dazu spricht, wird seine Stimme wie von allein klangfeiner tönen lassen.

Kommen wir zurück auf das Philosophieren über die Verbundenheit und Verteiltheit von typischen Objekten. Auch im Räumlichen kennen wir Erscheinungen, die im Gegensatz zu üblichen Objekten weit verteilt auftreten: Wellen. Wellen können wir als Zustände auffassen, die ihrer Natur nach verteilt sind und verschiedene materielle Schichten unter Brechungen und Reflexionen durchlaufen. Natürlicherweise denken wir bei Wellen immer an das Wasser, an das Meer. Die mühelose Bewegtheit der Welle regt unsere Phantasie an, nimmt sie mit an einen fernen Ort jenseits des Horizontes, an dem die Welle womöglich einer Grenze begegnet: an einen Strand. Dort, wo das Wellenhafte und ein formbares Begrenzendes zusammenfallen, entstehen unter Reflexionen die Spuren der Wellen im Sand: Pseudoobjekte, die von einem Zustand zeugen - mehr oder weniger lange.


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DER DICHTER SPRICHT

Einst fühlte ich mich frei,
ich öffnete mein Herz,
ein Hauch wehte,
wie Schuppen fiel es allda.

Ich schaute es ganz genau und klar:
ALLESINEINSINALLEM
EINSINALLSINEINEM

Nun ist´s mir verborgen wieder,
Alljedes verschuppt wie eh.
Doch ich sah es und weiß es - für immer.

Schon beim Blick auf die Notation des Stückes fällt in der Mitte eine Passage ohne Taktstriche mit klein gedruckten Noten auf. Sie ist also frei im Tempo zu nehmen. Sehr leise und einstimmig beginnend ist sie fließender als das Vorhergehende und das Folgende. Trotz aller Reduktion wirkt sie - mit einer Staupause startend, triolisch einen Bogen zeichnend und dann abrupt eine große Sexte aufwärtsspringend - regelrecht explosiv und verharrt schließlich nach zwei Zwischenschritten des Absteigens sehr lange auf einem Ton, so expressiv, wie ansonsten kaum ein einzelner Ton sein kann. Liegt es da nicht nahe, diesen Ton als ein "Eins für Alles" anzusehen?

nur Klavier, 136 kB

Klavier und Stimme, 168 KB

Der Hörer mag die Situation auch so empfinden, daß zu Beginn des Stückes wie üblich die Melodie im Vordergrund steht, die Klanglichkeit ein Attribut ist. Auf diesem langen Ton tritt nun das Klangliche in den Vordergrund. Ein einzelner Klavierton ist voller Schwankungen in der Zusammensetzung der Teiltöne, die man üblicherweise überhört, die hier aber in den Vordergrund rücken. Statt der "gesetzten zeitlichen Entwicklung" einer Melodie wird aus spektralen Komponenten und ihren Modulationen ein Fluktuieren wahrnehmbar, das durchaus als komplex-melodischer Mikrokosmos gehört werden kann. Im Gegensatz zur "gesetzten Melodie" bietet sich hier mehr Gestaltungsfreiheit des Hörens. Die Grenze zwischen Zeitlichem und Klanglichem ist verwischt.

In diesem Sinne zeigt die Musik einen wahren "Dichter", nämlich einen, der durch die Verdichtung hindurch neue Dimensionen eröffnet.

Schließen wir hier die Frage an, ob die Wahrnehmung von Dichte als solche objektiv ist. Wir beschränken uns auf die Dichte von Ereignissen, also das Zeitliche - im Räumlichen gilt Analoges. Wir zitieren dazu den Text einer anderen Seite aus dieser Website:

Ein Aspekt sei noch erwähnt, der zum Nachdenken anregt: Wie sieht es aus, wenn man sich zu sehr konzentriert, eben auf nur ein Element, statt auf das Ganze, wenn man sozusagen Spezialist und nicht Generalist ist. Wenn man nur einen Zeitpunkt herausgreift (ein Signal erzeugt, daß nur in einem Moment an, sonst immer aus ist), so stellt sich diese "Konzentration im Zeitlichen" im Frequenzlichen so dar, daß alle Frequenzen -ein Kontinuum von Frequenzen- zu diesem einen Zeitpunkt gehören (das Spektrum des Signales ist für alle Frequenzen ungleich Null). Greift man sich umgekehrt nur eine Frequenz heraus, so entspricht dies im Zeitlichen einer Sinusfunktion, die geht per Definitionen von minus Unendlich bis plus Unendlich, die gesamte "zeitliche Unendlichkeit" ist beteiligt. Statt spezialisiert zu denken, soll man ganzheitlich denken - wird oft gesagt. Aber wenn die Spezialisierung unter einem anderen Blickwinkel -sprich in anderer Darstellung- ein Allgemeinbezug ist, und ein Allgemeinbezug wiederum in einer anderen Darstellung als Spezialisierung erscheint, dann ist eine solche Aussage als allgemeinverbindliche Forderung wertlos!
Was wirklich hilft, ist die Fähigkeit, die Darstellung wechseln zu können und die Ergebnisse aufeinander beziehen zu können. Diese Fähigkeit, Erscheinungen und Prozesse in verschiedenen Darstellungen zu verstehen, ist erforderlich, um eine klare Vorstellung von der Stimmproduktion zu erreichen. Auch wenn man sich ernsthaft mit der Frage beschäftigen möchte, was den Stimmklang ausmacht, den wir hören, ist diese Fähigkeit unumgänglich.

> zitierte Seite, sie gibt eine Einführung in den Begriff der Darstellung und bietet weitere Links an.


Kurz gesagt: Die Vorstellung, ob etwas dicht ist oder nicht, hängt davon ab, welche Darstellung bei der Wahrnehmung benutzt wird. Die Fähigkeit, solche Darstellungen zu wechseln, ergibt eine vollständigere Einsicht in die faktische Realität.
Zugegeben: Wir sind nun sehr in das Wissenschaftliche geraten. Aber es ist doch faszinierend, daß hier Strukturen erkennbar sind, die uns über das Rätsel des Dichtens, des Wahrnehmen und des Seins schlechthin Aufschlüsse geben.
Um die Dimension solcher Überlegungen ins rechte Licht zu rücken sei hier noch darauf verwiesen, daß eine grundsätzliche Frage bisher noch nicht angesprochen wurde: Wir verstehen uns gemeinhin als ein Subjekt, das mit Objekten zu tun hat. Das ermöglicht uns erfolgreiches Handeln im Alltäglichen. Um existentielle Fragen zu verstehen, wäre es hilfreich, den Grad dieser Subjekt-Objekt-Einstellung zu reduzieren. Wie das im einzelnen geht, ist kaum kurz zu fassen. Hier sei erwähnt, daß die Fähigkeit, die normale Darstellung der Wahrnehmung in Raum und Zeit hier und da zu durchbrechen von elementarer Bedeutung ist, um Subjekt-Objekt-Relationen aufzulösen. In der Raum/Zeitdarstellung für sich getrennt lokalisierte Objekte werden in einer Frequenzdarstellung zu gänzlich anders angeordneten Strukturen.
Zurück zum Dichter: Seine Fähigkeit liegt darin, gezielt zu "dichten" und zu "entdichten". Über der kindlichen Sehnsucht nach Fernem und der weisen Konzentration des Alls in einen Punkt kann er einen Zyklus aufspannen. Seine Größe hat er nicht einfach nur aus einer einmaligen erkenntnisoffenbarenden Erscheinung gewonnen, sondern weil er die Erkenntnis bewahrt und beherrscht - und weil er eine Quintessenz daraus dem Kinde (im Erwachsenen) mitgeben kann. Gerade, wenn es um das "Geheimnis" geht, daß Getrenntes genauso gut als Ineinanderfließendes wahrnehmbar ist, ist das doch das Mindeste, was man erwarten darf!

E b e n : "... und weiß es - für immer." P u n k t f ü r i m m e r


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