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7 1/2 KINDERSZENEN Von fremden Ländern und Menschen |
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Text-Musik-Assemblé mit 8 Klavierstücken aus Robert Schumann, Opus 15 Text und Arrangement: Heinz Stolze Anmerkungen zu den einzelnen Stücken Heinz Stolze, 23. Dezember 2005, ergänzt am 16.2.2006, überarbeitet am 15.8.2011 Tipp Fachbegriffe: Wenn Sie sich näher über genannte Komponisten, Poeten, Wissenschaftler informieren möchten, oder Fachbegriffe nachschauen möchten, empfehlen wir: wikipedia (Wort im Suchfeld am linken Rand eingeben, Button "Suche" anklicken)
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VON FREMDEN LÄNDERN UND MENSCHEN Weit jenseits des Meers möchte ich sein, Die Entwicklung der Kleinkinder besteht nicht nur in Hinzulernen. Sie besteht auch darin, kulturell geprägte Verhaltensweisen zu lernen und dabei vorhandene Fähigkeiten abzubauen. Dazu ein Beispiel aus dem Spracherwerb: Säuglinge vor der Sprechphase können durchaus Sprechlaute unterscheiden, die ihre Eltern nicht unterscheiden können. Beispielsweise können chinesische Kleinkinder l und r als verschieden erkennen. Das Verlernen solcher nicht benötigter Fähigkeiten ist offenbar nötig, um sich in einer Sprache, der Muttersprache, gut zurechtzufinden. Die Notwedigkeit des Verlernens von Fähigkeiten ist generell für die kulturelle Entwicklung unabdingbar. Basierend darauf sei folgende These aufgestellt: Kinder haben tief in ihrem Inneren eine Empfindung dafür, daß sie viele Entwicklungsmöglichkeiten aufgeben mussten. Sie ahnen, daß sie auch in gänzlich verschiedenen Kulturen leben könnten. Sie sehnen sich danach, wenigsten etwas über diese zunächst verlorenen fremden Länder und Menschen zu hören. Am schönsten wäre es, nicht so viel aufgeben zu müssen und frei wie ein Vogel hier und da sein zu können. In diesen Vorstellungen ist das andere Mögliche örtlich abgetrennt. Hier ist das eine - das meine- Land, dort ein anderes. Dieses Motiv findet im Text zum letzten Stück "Der Dichter spricht" einen Kontrapunkt. Für ihn ist alles verdichtet: Alles in Einem und Eins in Allem. Die (später folgende) Anmerkung zu diesem Stück wird darauf eingehen, daß diese Gegenüberstellung keineswegs so widersprüchlich ist, wie es zunächst scheinen mag. Dabei werden wir auf die Theorie der Darstellungen eingehen, die für die Beschreibung der menschlichen Wahrnehmung elementar ist.
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BITTENDES KIND Eine Schaukel möcht´ ich kriegen! |
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WICHTIGE BEGEBENHEIT Du schau doch hin, was dort kommt! Dort stürmen drei goldene Ritter herbei! Sie kommen immer näher und gleich sind sie da! Du schaust, daß du jetzt deine Zähne putzt! Dann stürmst du dort ins Bett husch, husch! Wer kennt nicht den gebannten Blick auf bisher Unbekanntes oder das ernst erregte "da, da". Da reagieren die Eltern, wenden sich dem Kind zu und erklären. Früher oder später lernt der Sproß, solche Erregung zu simulieren, um Aufmerksamkeit zu erlangen, auch um das Schlafengehen hinauszuzögern. Man nehme dies ernst aber auch mit Humor. Und nach dem Zahnputz und dem Husch ins Bett wird man ja gemeinsam diese und jene Begebenheiten passieren lassen und dabei mag der Papa seinerseits dies oder das ein wenig aufbauschen. Siehe dazu: Was es denn wohl mit den Zwergen auf sich hat? (Fürchtenmachen) > NACH OBEN |
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TRÄUMEREI Du sagst... (Das Klavier spricht) stets und alle Zeit. Du sagst ... (Das Klavier spricht) bis in die Ewigkeit. Wenn auch ... (Das Klavier spricht) Ich glaub´ und hoff´ und habe lieb. Du sagst ... (Das Klavier spricht) Du sagst ... (Das Klavier spricht) Ja so soll es - soll es sein. Nach einem soliden Auftaktsprung hebt die Melodie ab und gleitet hoch hinauf in ein fast zeitlos schwebendes Verweilen aus dem sie wie im Flug einer Feder in segelnden Bögen wieder hinab driftet. Der dritte und letzte Abgleitbogen verlängert sich in ein anhaltendes Ausgleiten, während die Begleitstimme die Wende zum nächsten Aufschwung einleitet. Das Kind träumt, die Mutter oder der Vater schaut zu - vielleicht auch beide. Aufschweben und Abschweben wiederholen sich in einer etwas höher ausgreifenden Bewegung. Die Feder kann sich nun länger oben halten, während Schattenenwürfe abwärts sinken. Nach dieser Exposition folgt eine Durchführung: Über den beiden Schwebebögen scheint das Licht wie von einer trüben Wolke verdunkelt, im Abgleiten verdichtet sich ein pochendes Motiv, unter dem Feder und Schatten sich verranken wie ernst ineinandergreifende, pulsend aufsplitternde Gedankenlinien. Und dann die Reprise mit modifiziertem zweiten Bogen und großem Ritardando im Zenit und auf dem folgendem Segelflug auf klarer Linie, dem ein ruhender Ausklang in geborgene Gewissheit folgt. Im Text lassen wir offen, worum genau es geht. Das Klavier "spricht" und drückt ohne Worte etwas aus, das stets aktueller ist als fixierter Text. Einmal dies, einmal das, und doch ist es immer wieder der Ausdruck desselben, nicht formulierbaren Kerns. Und wenn beide Eltern das träumende Kind betrachten, mag es in den unausgesprochenen Passagen ja auch um ihre Beziehung zueinander gehen. > NACH OBEN |
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Dies ist ein weiteres Motiv: ein an sich verbotener Blick in andere Welten könnte im Bereich des menschlichen Normallebens unerwünschte Auswirkungen haben. So ist der Einblick zwar mitunter möglich, das Gesehene wird aber im Gedächtnis wieder gelöscht oder zumindest weitgehend unkenntlich gemacht. Im optimalen Falle bleibt ein bizarrer Rest, möglicherweise auch ein Stück mehr Weisheit. Damit wären wir wieder beim Dichter, der spricht. Ihm gelang mehr, er beteuert, daß er das Gesicht, das er hatte, behalten habe - "für immer". Es ging wohl um mehr als um fleißige Wichtel, die es den Menschen ungefragt bequem machen. |
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KIND IM EINSCHLUMMERN Dein Tag war hell und bunt. Wellen schlug er, die nun huschen über dein Gesicht, Wellen, deren Zünglein im Strand eines fremden Landes Linien zeichnen und Sandkörner zu Zwergenwällen schieben und versickernd - wiederkehren? Dies Land ist fern, und doch so nah vor mir sein Schein. Du magst - vielleicht - dort sein. Schumanns Klavierstück beginnt mit einem wiegenden Motiv (lang, kurz, kurz, kurz, lang). Es startet schwebend auf der 5. Stufe des E-Moll-Akkordes mit kleiner Wellenbewegung und schwingt sich zum Schluß eine Quinte nach oben, erreicht so die formal siebte Stufe von e-Moll, die durch eine zwischenzeitlich erfolgte Modulation zur 5. Stufe in H-Dur umgedeutet wird. Bereits auf dem vorletzten Ton wird das Motiv eine Oktav höher aufgenommen und erklingt rhythmisch identisch, aber mit anderen Intervallen, wobei auf dem vorletzten Ton die untere Stimme wieder übernimmt. So schaukelt das Motiv zwischen den Oktaven in verschiedenen harmonischen Modalitäten hin und her, und sein Rhythmus durchzieht das Stück ohne Unterbrechung. Die Lage der Melodie wechselt währenddessen durch die Oktaven wie ein Gedanke durch verschiedene Schichten des Bewusstseins. Beginnend in der "normalen" Lage H3 (=h) in der linken, H4 (=h´) in der rechten Hand steigt die Melodie im Verlaufe des Stückes hinab bis auf einen Anfangston H1, von dem aus in einer Modifikation des Anfangsmotivs gar das E1 als Melodienton durchlaufen wird, ein Ton, der auf dick umwickelter Saite mit schütterem Klangfundament und gerade noch erkennbarer Tonhöhe grummelt. Im Verlaufe der Durchführung verändert sich die Sprunghöhe des letzen Motivintervalls von der Quinte des Anfangs über Quarte, Sexten (große und kleine), Septen bis hin zur Oktav. Zusammengefasst: ein wiegendes Motiv durchläuft unter Modifikationen verschiedene Oktavlagen. Die Assoziation eines Gedankens, der beim Einschlummern verschiedene Bewußtseinsschichten durchläuft, liegt nahe. Dabei ist ein klanglicher Aspekt bemerkenswert: Im eröffnenden Molldreiklang (hier e-g-h) überlagern sich auf dem Ton zwei Oktaven über der Quinte (hier h´´) drei Teiltöne (siehe ggf. > Glossar) der Akkordtöne (der 6. von e, der 5. von g, der 4. von h). Mit ein wenig Übung kann man dieses h´´ auch hören und zwar als schwebenden Ton (da die drei Teiltöne in ihrer Grundfrequenz leicht differieren). So schließt der Anfangsakkord bereits die höher gelegene Oktavschicht auf und gibt ihr eine fein vibrierende Aura. Dies erfolgt auf einem Ton (h´´), der als ein Zielpunkt der Motiventwicklung in dieser Oktavlage angesehen werden kann. Er erklingt in der rechten Hand beim vierten Auftreten des Motivs als letzter Ton im Oktavsprung (vorher zweimal der Quintsprung wie am Anfang, einmal ein Quartsprung, dann dieser Oktavsprung). Zudem erklingt dieses h´´ als Spitzenton in der Eröffnung der Akkordfolge, die nach dem achtfachen Auftreten des Motivs in der rechten Hand der folgenden tiefgelegenen Melodie (linke Hand) einen "Klanghimmel" aufsetzt. Zusammengefasst: Die Anbindung der höheren Oktavlagen wird in besonderer Art durch die Klangstruktur vermittelt. Dies gilt auch für die tieferen Lagen. An der zuletzt beschriebenen Stelle ("Klanghimmel") setzt die linke Hand mit einer offenen Quinte (E2-H2) ein. Diese ruft in der Wahrnehmung den virtuellen Baßton E1 hervor, eröffnet so die tiefere Oktav. Diese Wirkung wird durch den E-Dur-Akkord in der rechten Hand unterstützt, da alle seine Töne auf der Teiltonreihe des E1 liegen. Auch dieser Ton ist als tiefster erreichter Ton ein Zielpunkt der folgenden Modulationen. Das Umsteigen von Schicht zu Schicht erfolgt oft über die Oktave, indem die in verschiedenen Lagen auftretenden Themen sich okatvisch überlappen, und dabei sozusagen den Staffelstab weitergeben, wie ganz oben beschrieben. Stellenweise laufen die Motive auch über längere Strecken oktavparallel. Auch beim Lagenwechsel der Hauptmelodie über die Oktave dient die Teiltonstruktur als klangliche Verbindung: die Teiltöne des höheren Tones der Oktave sind ein Auszug der Teiltöne des tieferen, nämlich die Geradzahligen. Unter diesem Aspekt kann man den höher gelegenen Ton durch Weglassen jedes zweiten (nämlich ungeraden) Teiltones des tieferen erzeugen. Es kann somit vermerkt werden, daß die Passagen der melodischen Elemente durch die verschiedenen Oktaven mit einer besonderen klanglichen Verbindung einhergehen, die diesen weitgeschichteten Raum der Höhenlagen gut verbinden und bruchfrei passierbar machen. Dies beruht nun auf einer Struktur der Töne, die den gegenständlichen Objekten unserer Umgebung nicht gegeben ist. Während ein Gegenstand - der Prototyp eines Objektes im Raum- uns in sich kompakt scheint, ist ein Ton -der Prototyp eines Objektes im Bereich des Schalls- eine Schichtung von miteinander unverbundenen Teilen (Teiltönen). Diese sind für das Gehör normalerweise nicht getrennt erkennbar, unter bestimmten Umständen und mit Übung lassen sie sich aber auch immer wieder einmal einzeln wahrnehmen. Ihre Ausprägung und ihr Zusammenspiel sind entscheidend für unsere Ton- und Klangwahrnehmung. Sie bilden sozusagen eine Tiefenstruktur unter der normalerweise wahrnehmbaren Oberfläche. Die Art und Weise, wie in diesem Stück Klangstrukturen aufscheinen, kann als eine besondere Anregung zur Klangentfaltung der Sprechstimme genutzt werden. Wer zunächst einmal sein Ohr für dieses Spiel mit der Klangweite öffnet und dann dazu spricht, wird seine Stimme wie von allein klangfeiner tönen lassen. Kommen wir zurück auf das Philosophieren über die Verbundenheit und Verteiltheit von typischen Objekten. Auch im Räumlichen kennen wir Erscheinungen, die im Gegensatz zu üblichen Objekten weit verteilt auftreten: Wellen. Wellen können wir als Zustände auffassen, die ihrer Natur nach verteilt sind und verschiedene materielle Schichten unter Brechungen und Reflexionen durchlaufen. Natürlicherweise denken wir bei Wellen immer an das Wasser, an das Meer. Die mühelose Bewegtheit der Welle regt unsere Phantasie an, nimmt sie mit an einen fernen Ort jenseits des Horizontes, an dem die Welle womöglich einer Grenze begegnet: an einen Strand. Dort, wo das Wellenhafte und ein formbares Begrenzendes zusammenfallen, entstehen unter Reflexionen die Spuren der Wellen im Sand: Pseudoobjekte, die von einem Zustand zeugen - mehr oder weniger lange. > NACH OBEN |
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DER DICHTER SPRICHT Einst fühlte ich mich frei, ich öffnete mein Herz, ein Hauch wehte, wie Schuppen fiel es allda. Ich schaute es ganz genau und klar: ALLESINEINSINALLEM EINSINALLSINEINEM Nun ist´s mir verborgen wieder, Alljedes verschuppt wie eh. Doch ich sah es und weiß es - für immer. Schon beim Blick auf die Notation des Stückes fällt in der Mitte eine Passage ohne Taktstriche mit klein gedruckten Noten auf. Sie ist also frei im Tempo zu nehmen. Sehr leise und einstimmig beginnend ist sie fließender als das Vorhergehende und das Folgende. Trotz aller Reduktion wirkt sie - mit einer Staupause startend, triolisch einen Bogen zeichnend und dann abrupt eine große Sexte aufwärtsspringend - regelrecht explosiv und verharrt schließlich nach zwei Zwischenschritten des Absteigens sehr lange auf einem Ton, so expressiv, wie ansonsten kaum ein einzelner Ton sein kann. Liegt es da nicht nahe, diesen Ton als ein "Eins für Alles" anzusehen? nur Klavier, 136 kB Klavier und Stimme, 168 KB Der Hörer mag die Situation auch so empfinden, daß zu Beginn des Stückes wie üblich die Melodie im Vordergrund steht, die Klanglichkeit ein Attribut ist. Auf diesem langen Ton tritt nun das Klangliche in den Vordergrund. Ein einzelner Klavierton ist voller Schwankungen in der Zusammensetzung der Teiltöne, die man üblicherweise überhört, die hier aber in den Vordergrund rücken. Statt der "gesetzten zeitlichen Entwicklung" einer Melodie wird aus spektralen Komponenten und ihren Modulationen ein Fluktuieren wahrnehmbar, das durchaus als komplex-melodischer Mikrokosmos gehört werden kann. Im Gegensatz zur "gesetzten Melodie" bietet sich hier mehr Gestaltungsfreiheit des Hörens. Die Grenze zwischen Zeitlichem und Klanglichem ist verwischt.
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