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Abteilung
Wissen, Lehrmittel, Diskussion
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Rubrik
Diskussion
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Thema
Disput: Gesangspädagogik und Wissenschaft
Heinz Stolze, Institut für Stimme und Kommunikation, Bremen

in www.forum-stimme.de

neu erstellt am 4.12.2002

Themenanregung: E. Storz


Ein Disput über: Gesangspädagogik und Wissenschaft


Anläßlich unserer Diskussion zum Thema "Weicher Gaumen" sandte Herr Eberhard Storz einen Beitrag, der offenbar witzig und leicht kopfschüttelnd gemeint war, er bezeichnete ihn später als einen "Wiener Raunzer". Daraus entwickelte sich ein Hin und Her von mails, das ich in Anbetracht der über das rein Sachliche hinausgehenden Anteile als Disput bezeichnen möchte. Ein Disput tut gut ! Vor allem, wenn im vorgeblich Sachlichen - bildlich formuliert - die Karren so massenweise im Dreck stecken geblieben sind, wie das offenbar im Bereich Gesangspädagogik und Wissenschaft der Fall ist.

Eberhard Storz, 30.10.2002 / Wiener Raunzer

Heinz Stolze, 31.10.2002 / Gaumen, Wissenschaft und Praxis ...

Eberhard Storz, 30.10.2002 / alles Aspekte einer Technik

Heinz Stolze, 7.11.2002 / Wanderer und Landvermesser...

Eberhard Storz, 1.12.2002 / Überflieger...

Heinz Stolze, 3.12.2002 / Geschwafel ignorieren...

Ihre Meinung: senden Sie uns eine Mail

Eberhard Storz, 30.10.2002 / Wiener Raunzer


Sehr geehrter Herr Dr. Stolze, ich bedaure nachgerade, daß ich erst jetzt auf Ihre Homepage geraten bin und Sie nicht während meiner Zeit in Bremen bei Jekyll&Hyde kennenlernen konnte. Ja ich habe von Bach über Wagner bis eben zum Musical alles gesungen , was (mir) Spaß macht, und das nun über 45 Jahre ohne Verschleißerscheinungen. Soviel zu meiner Legitimation.

Und vorab meine herzlichen Glückwünsche zu Ihrem Projekt. Ausnahmsweise möchte ich meine Meinung äußern (ich tue das sonst nie, weil meine Meinung mich sehr viel Arbeit gekostet hat und ich deshalb gar keinen Wert darauf lege, dass irgendwer sie teilt... ja Humor vermisse ich gänzlich auf Ihren Pages...)

Nun zum weichen Gaumen: Haben Sie es eigentlich wirklich nur mit Eso-Sängern zu tun? Oder artikuliert da mal jemand einen Satz? Hat niemand der Herrschaften je eine Hochgeschwindigkeitsaufnahme von auch nur normalem Sprechen gesehen und was das arme Gaumensegel dabei aufführen muß um zwischen Nasalen und Explosiva zu trennen? Es ist ja völlig in Ordnung seinen weichen Gaumen zu entdecken, aber was man da entdeckt ist eine doppelte Projektion: einerseits wie man den Körper subjektiv wahrnimmt und andererseits, wie sich der Körper subjektiv darstellt. Mit der anatomisch-physiologischen Realität hat das sehr wenig zu tun.

Ich stimme voll und ganz mit Ihnen überein, daß Forschung und Lehre sich innig beeinflussen sollen. Aber allzu direkte Schlüsse, oder beinahe Kurzschlüsse aus wissenschaftlichen Aha-Erlebnissen auf den Gebrauch der Stimme scheinen mir doch suspekt. Ein Analogie-Kurzschluss: Was hat die Gehirnforschung für das Denken gebracht???

Beste Grüße und bald auf ein Neues. Ihr Eberhard Storz


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Heinz Stolze, 31.10.2002 / Gaumen, Wissenschaft und Praxis ...

Sehr geehrter Herr Storz,

vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag. Neben dem direkten Thema "Gaumen" werfen Sie auch die fundamentale Frage auf, wie und ob das Wissen (die Wissenschaft) wirklich dem Sänger helfen kann.

Zur Ihrer Anmerkung über den Gaumen und das, was das arme Gaumensegel schon beim Sprechen alles ausführen muß, um Nasalen und Nicht -Nasalen schnell genug gerecht zu werden: ich gehe fest davon aus, daß den meisten der zur Diskussion Beitragenden das ziemlich klar ist (soweit ich weiß, ist niemand von ihnen ein Eso-Sänger) . Ich würde übrigens keine "Hochgeschwindigkeitsaufnahmen" bemühen (darunter versteht man in der Vokologie Filmaufnahmen zur Verfolgung der Stimmlippenschwingung mit einigen tausend Bildern pro Sekunde). Um einen Eindruck von der Schnelligkeit des Gaumensegels zu erhalten, reichen vollauf normale Aufnahmen (ca 20 Bilder pro Sekunde), die man gegebenenfalls in Zeitlupe abspielt.

Beim Singen mit klassisch orientierter Stimme geht es vor allem darum, daß Artikulation und Phonation auf den Vokalen gut abgestimmt sind. Diese werden ja im allgemeinen wesentlich länger als beim Sprechen ausgehalten. Unser Thema ist die optimale Gaumenstellung in diesem quasistationären Fall. Können sie uns dazu Ihre Erfahrung mitteilen?

Zum Thema "Forschungsergebnisse und praktischer Nutzen": Im Bereich Gehirnforschung und Denken - insbesondere Lernen- gibt es sehr interessante Ansätze - etwa aus der Forschungsgruppe um Prof. Roth in Bremen und Prof. Altmüller in Hannover. Die moderne Gehirnforschung ist noch sehr jung - die konkrete Anwendung entwickelt sich immer eher langsam. Im Bereich der Stimme dürfte kaum ein Zweifel daran bestehen, daß gerade erfolgreiche Gesangspädagogen sich immer für das aktuelle Wissen interessiert haben. Auch
die Beiträge der Sänger, ob es der "wissende Sänger ist" oder eben "Singen aber logisch" zeigen, daß die Funktion der Stimme Künstler und Pädagogen sehr interessiert. Sie zeigen auch, daß ein wirkliches Profitieren vom Fachwissen alles andere als eine 1:1-Übertragung ist. Das haben Sie im Bild der "Kurzschlüsse" sehr passend formuliert. Ich finde, diese verschiedenen Welten fruchtbar zusammenzubringen ist eben auch eine Kunst - keine leichte, aber eine vielversprechende. Haben Sie denn einen Vorschlag, wie man da am besten "über die Gräben" hinwegkommt ohne zu trivialisieren?

mit aufrichtigem Interesse an Ihrer Meinung
und einem freundlichen Gruß
Ihr Heinz Stolze


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Eberhard Storz, 30.10.2002 / alles Aspekte einer Technik


Sehr geehrter Herr Dr. Stolze

ich bin gerührt und amüsiert über Ihre prompte Retourkutsche. . Der Hochgeschwindigkeitstiefschlag traf direkt die Lachmuskulatur... für einen älteren Herrn ist schon die Barbier-Cavatine Hochgeschwindigkeit. Meine direkt ins Netz getippte Mail war eher ein "Raunzer" (ich lebe zur Zeit in Wien) als ein ernsthafter Beitrag. Es "wollte mir einfach nicht zu Kopfe", daß jemand von Ihren Fachwissen und Ihrer geradezu enzyklopädischen Allgemeinbildung behauptet "die optimale Gaumen(EIN)stellung beim quasi stationären Einzelton bei der klassisch orientierten Stimme" sei ein diskussionswürdiges Thema. Ohne "Gaumen" ja!

Wenn man sich nicht scheut zu "trivialisieren" gibt es keine Gräben. Dieser Grabenkrieg ist ein "typisch deutscher Gegenstand", nur hier kennt man dieses herablassende Mitleid des Theoretikers mit dem thumben Praktiker, der es nur kann: es ist eine Frage der Einstellung in den variablen Bedeutungen des Wortes. Ich spreche wohlgemerkt nicht von Ihren ernsthaften Versuchen einer sinnvollen Vermittlung. Aber wenn Sie eine wissenschaftlich fundierte "Schokoladenton-Theorie" entwickeln und dann in einem Halbsätzchen suggerieren, man "nehme das dann einfach auf die anderen Töne mit", sind Sie mitten im Lager der "Zauberer". Und wenn es funktioniert, gibt es keine Beweislast. Ich habe allerdings, vor allem aus dem (vielleicht mißverstandenen?) Umfeld von Schlaffhorst-Andersen immer wieder erlebt, daß dem nicht so ist. Daß nämlich ein gewisser Klangfetischismus den (noch unwissenden) Sänger daran hindert, auch nur einigermaßen akzeptabel zu artikulieren, und es nie zu der von Ihnen beschriebenen "Abstimmung" kommt. Deshalb ist es durchaus denkbar, daß "halb-und-halbwissende" Pädagogen (wie ich z.B.) von vorn herein einen "kompromissfähigeren" Weg gehen. Ich arbeite seit Jahren, wider besseres Wissen, mit und an einer "Dreispartentechnik", bei der ich den Gebrauch der Stimme vom "ungespannten Sprechen" bis zum Opernfortissimo und vom Musicalbelt bis zum (scheinbar) naturalistisch geschrieenen emotionellen Ausbruch als rein quantitatives Problem beschreibe. Und in dieses "Integral Performing" sogar noch die Darstellung einbeziehe und behaupte: alles Aspekte einer Technik. Und das funktioniert...

Wenn Wissenschaftlichkeit vorliegt, wenn also die Wissenschaft erklären kann, warum dem Tenor, der sonst ein sicheres C hat an diesem Abend schon das A wegbricht, und die Wissenschaft auch gleich das Remedium kennt,
wer würde denn da zweifeln, daß sie "dem Sänger helfen kann"? Das steht doch ganz außer Frage, aber: der Vokologe muß wissen, der Pädagoge sollte wohl wissen-- als ich 1959 Frau Martienssen-Lohmanns Buch verschlang, war ich mit meinen aufmüpfigen 18 Jahren der Ansicht, daß das durchaus nicht den neuesten Stand der Wissenschaft, geschweige denn den einer zeitgemäßen Ästhetik beschrieb... aber der Sänger? - kennen Sie das unglaubliche Buch von Jerome Hines "Great Singers on Great Singing"? Hines war "Hausbass" an der Met und zeichnete jahrelang die Statements seiner berühmten Kollegen zum Thema Gesangstechnik auf. Dieses Buch hat mich damals(1982, ich war am Bayerischen Staatstheater engagiert) in eine Sinn- und Stimmkrise geworfen, so unglaublich kontrovers waren die Inhalte. Wohlgemerkt keine Lippenbekenntnisse zu irgendeiner Schule sondern: "so singe ich"!

Weltbeste Sänger, Wissende oder Unwissende? Mein Lehrer in den 70-ger Jahren, Max Lorenz, war ein reiner Tor, aber sein Arbeitsmodell und sein Charisma als Lehrer war einzigartig, Leute wie Rene Kollo und James King gaben sich die Türklinke in die Hand. Natürlich wäre charismatisch und wissend das Ideal...

Ich habe sowohl den Beruf des Schauspielers als auch den des Sängers ausgeübt - tue es noch - Von 1987 bis 96 war ich als Dozent für Sprecherziehung, Gesang und Darstellung an vier verschiedenen Hochschulen tätig, und bei der Beobachtung meines Umfelds kam ich zu der subversiven und notwendigerweise unpopulären Theorie, daß sich geeignetes Material durch Feedbackphänomene selbst formt wie man es einem guten Golden Retriever nachsagt... , daß die subjektive "Chemie" zwischen Lehrer und Schüler das Ausschlaggebende ist und selbst die unglaublichsten Missverständnisse kreativ sein können. Ich habe das mit einer Altistin der obersten Karriereetage miterlebt: sie hat einfach alles, was ich ihr zu vermitteln suchte falsch verstanden und damit glänzende Resultate erzielt... wenn sie dann nach einer fabelhaften Eboli fragte: hast Du das so gemeint, habe ich mich gehütet zu widersprechen...

Ach ja, das Thema: natürlich habe ich Erfahrung mit dem weichen Gaumen. Ich habe mir von meinem wissenschaftlich diplomierten Psychologensohn sagen lassen, wie man das nennt, damit ich mich nicht wieder blamiere: in der Fremdanalyse unterliegt die Beobachtung des lebenden Probanten dem Versuchsleitereffekt, eine objektive Selbstanalyse gibt es nicht. Oder kurz: der beobachtete Zustand des weichen Gaumens während des quasistationären, klassisch geprägten Einzeltons ist für den Gesang irrelevant. It is a trifle. Eine scherzhafte Nichtigkeit, wie mein Vorschlag: es braucht keine "Grabenkriege" , nicht einmal Brückenschläge... sondern nur eine bescheidene, sachdienliche "so oder aber auch so"- Philosophie...

Soweit einige Ansichten eines aktiven Fossils.

Herzliche Grüße , Eberhard Storz


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Heinz Stolze, 7.11.2002 / Wanderer und Landvermesser...

Sehr geehrter, lieber Herr Storz,

ich freue mich, daß Sie ebenfalls so prompt retournieren. Was soll auch das Zuwarten, wenn man sich klar ist, was man erwidern möchte?

Ich bin sehr froh, daß Sie so ausführlich geschrieben haben und - wie ich meine - auch den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Im Grundsätzlichen sind wir uns weitgehend einig. In meinen Worten sieht die Szenerie so aus: es ist vollkommen unmöglich, daß Künstler, Pädagogen und Wissenschaftler zu einheitlicher Meinung verschmelzen. Die verschiedenen Sichtweisen zu formulieren, Widersprüche zu benennen und sich daran gemeinsam "abzuarbeiten" ist nicht leicht - auch emotional nicht- aber es führt weiter. Und zwar nicht zu einem Ende in Harmonie, sondern zu komplexeren Ausdrucksmöglichkeiten. Ihnen hilft dabei offensichtlich der Humor, und die Fähigkeit, selbstkritisch auf frühere Jahre zurückzublicken.

Allein indem wir uns dazu bekennen, daß kein Lebensweg direkt zum Ziel führt, müssen wir anerkennen, daß es keine wissenschaftlich fundierten und allgemeinverbindlichen Wegweiser des kürzesten Weges für den Einzelnen gibt. Allerdings gibt es Landkarten. Und wer Wege vorschlägt, die wohlabgesicherten Fakten auf Landkarten (=Wissenschaft) grass widersprechen, muß schon gute Argumente anderer Art (kommunikationspsychologische, astrologische?...) vorweisen. Wer in unbekanntem Terrain Wege für sich selbst sucht, tut sicher gut daran, sich eine Landkarte zu besorgen. Man könnte auch sagen: gute Landkarten verdichten die Erfahrungen vieler Einzelwege. Forscher, die selbst nicht ans Ziel der Wanderung kommen wollen (weil sie andere Ziele verfolgen), haben sich die Zeit genommen, alle möglichen Seitenwege in einer Art zu erkunden, die sich ein Zielgerichteter (Sänger) nicht leisten kann. Dabei haben sie auch Erkundungsmethoden benutzt, die viel mehr Daten erfassen als die natürlichen Wahrnehmungsorgane.

In der Schenke "Orpheus Ruh" treffen sich die Wanderer und die Geometer und fetzen sich gegenseitig, wenn es darum geht, ob ein Geröllfeld zu Fuß passierbar ist, oder der Fluß 500 m oberhalb der Schenke durchwatet werden kann. Doch wenn der Wanderer am nächsten Tag vor einer Weggabelung steht und überlegt, welche Richtung er einschlagen soll, wird er sich womöglich gern an eines Geometers Tips zu Orientierung im Walde erinnern, die er gestern empört als absolut überflüssig verworfen hat. Und ein Landvermesser, der verzweifelt versucht, mitsamt all seinem Gerät auf einem schmalen Pfad durch das Dickicht zur großen Eiche zu kommen, wird versucht sein, den gestern spöttisch belächelten Tip eines Wanderers aufzugreifen. Er schaut sich verstohlen nach dem breiten Weg um, der angeblich hinter einer unscheinbaren, verfallenen Mühle beginnt, auf dem man leichten Fußes zum besagter Eiche kommt.

Bezüglich meiner Kosonanztheorie, die Sie ansprechen (Schokoladenton) liegt es mir sehr am Herzen, ganz klar zu sagen, was hier meiner Meinung nach wichtig ist: Ich treffe kaum Sänger oder Gesangspädagogen, die wissen, daß die Vokalwahrnehmung im wesentlichen auf zwei akustischen Bereichen beruht. Ich nenne diese Bereiche den dunklen und den hellen Vokalanteil. In der Vokologie heißen sie Formant 1 und Formant 2. Wo liegt die Chance dieser Erkenntnis? Sie liegt darin, daß alle Aussagen darüber, welche Laute auf welchen Tönen besser oder schlechter zu singen sind, erst richtig klar werden, wenn man weiß, welcher Anteil des Vokals (via Resonanz) denn nun zu dieser Sachlage führt. Das Klangkontakttraining bietet die Möglichkeit, diese Anteile klar wahrzunehmen, das Kosonanztraining die Möglichkeit, damit positiv umzugehen.

Um zu veranschaulichen, was hierbei wirklich neu ist, möchte ich kurz einen Vergleich zur Malerei herstellen. Ein Maler, der ein Kreuz malt, weiß sehr wohl, daß er einen vertikalen Strich und einen horizontalen Strich übereinander malt. Er kann sich das physikalische Anregungsmuster auf dem menschlichen Sensororgan für Licht -der Netzhaut - sehr gut vorstellen. Dies entspricht (bis auf eine Umkehrung durch die abbildende Linse) dem, was er malt. Das Muster auf diesem Organ ist das Entree zur Darstellung der äußeren (sichtbaren) Welt in unserem Nervensystem und damit zur Verbindung von Vorstellung und Realität. Der Sänger hat i.a. kaum einen Bezug zur physischen Realität des Klanges und auch nicht zur Darstellung auf dem Sensororgan, nämlich dem Cortiorgan in der Schnecke des Innenohres. Während der Lehrer des Malers vorwiegend über das spricht, was auf der Leinwand zu sehen ist, spricht der Lehrer des Sängers bezüglich der Stimmbildung vorwiegend darüber, wie das Singen physisch gemacht wird (Haltung, Zunge, Atem, Kiefer etc). Natürlich spricht auch der Mal-Lehrer darüber, wie die Finger den Pinsel halten, wie Handgelenk oder Arm bewegt werden, um zu einem guten "Strich" zu kommen. Dies Drumherum ist aber gegenüber dem faktisch Erstellten nicht so übermächtig wie bei gängigen Gesangspädagogiken.

Nun ist es eine Frage der persönlichen Einstellung, ob es denn Sinn hat, die seit einigen Jahrzehnten bekannte akustische Struktur des Klanges pädagogisch mehr einzubeziehen. Ich plädiere natürlich dafür, und zwar mit folgendem Hintergrund: Wir erleben sozusagen auf natürlichem Wege den Klang als Ganzes, ohne seine Bestandteile (Formanten) erkennen zu können. In meinen Klangkontakt-Workshops wird es immer wieder klar, daß es für jeden Teilnehmer ein Leichtes ist, beim Singen zu zweit innerhalb weniger Minuten diese Bestandteile zu erfahren. Diese Erfahrung überträgt sich ohne umständliche weitere Maßnahmen auch auf das solistische Singen. Aus der feineren Wahrnehmung des Klanges entwickelt sich eine komplexere Gestaltung. Ich sehe hier eine Parallele zur Entwicklung der Tonhöhenwahrnehmung. Kinder können Melodien sehr gut wahrnehmen und reproduzieren, obwohl sie wohl kaum die Tonfolge richtig erkennen können. Nach Häckels "biogenetischem Grundgesetz" der Parallelität in der Entwicklung des Individuums und der Spezies darf man annehmen, das in einem früheren evolutionärem Stadium der Mensch eben auch Melodien wahrnehmen konnte, ohne Tonhöhen genau verfolgen zu können. Dies wurde in der Begegnung von Stimme und Saite anders. Es wird vermutet, daß die Jäger das Schwingen der Saite ihres Bogens hörten und daß möglicherweise von daher die "Erfindung" der Saiteninstrumente angeregt wurde. Der Saitenspieler lernt natürlich durch das Abgreifen sehr schnell den Zusammenhang zwischen Tonhöhen und Melodien, die er spielen möchte. Erst dadurch wurde (viel später) die Notation genau und in sozusagen normierter Art möglich und damit die musikalisch komplexe Vielstimmigkeit für Instrumente (Orchester) und Gesang.

Darauf baut meine erste These auf: Die Begegnung mit der "Maschine" Saite führte zur klareren Tonhöhenwahrnehmung. Diese erst zur Vielfältigkeit und Komplexität der heutigen mehrstimmigen Musik. Randbemerkung: Ein zunächst scheinbar kleiner Nachteil ist, daß sich die Vorstellung ausbildet, Töne lägen tatsächlich wie anfaßbare Objekte übereinander, ohne sich zu durchdringen. Die Laute entstehen in dieser Vorstellung sozusagen durch tonfarbliche Behandlung auf dem Niveau des jeweiligen Tones. Die Realität ist aber, daß die Töne hohe (Teil-)Töne haben, und die Art dieses Teiltonaufbaus die Laute prägt. Und eben, daß zwei gleichzeitig erklingende Töne sich nach klar definierbaren Regeln durchdringen.

Meine zweite These ist: Die Begegnung mit der modernen Technologie der Erzeugung von Stimmlauten und der Erkennung von Stimmlauten wird zu einer klareren Vorstellung von Klang führen. Aus dieser werden sich musikalische Ausdrucksmöglichkeiten entwickeln, die uns heute kaum vorstellbar sind. Auf lange Sicht werden sich weder Sänger noch Gesangspädagogen dieser Entwicklung entziehen können.

Jeder wird einsehen, daß es bei dieser Entwicklung viele Sackgassen und Gefahren gibt. Genau darum sind diejenigen, die guten Willens sind, bestens beraten, sich zu informieren und die Entwicklung mitzugestalten. Ein guter Start wäre, die Theorie der Teiltöne und der Formanten aus ihrem Status des ungeliebten praxisfernen "Nebenfachlehrstoffs" zu befreien. Sie müssen neu (unphysikalisch aber praxistauglich) formuliert werden, Klangstrukturen müssen erfahrbar (quasi anfassbar) werden.


Ich würde mich freuen, wenn ich auch diesmal Ihren Lachmuskeln zu fröhlicher Aktivität verholfen hätte, zumal ich ja erfahren habe, daß Ihr Amusement offenbar mit sehr konkreten und interessanten Ideen einhergeht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich noch einmal die Zeit nähmen, Ihre Meinung dazu darzulegen.

Sicher wäre es eine gute Idee, unsere Diskussion im forum-stimme einzubringen. Nachdem Sie ihre Mails bezugnehmend auf diese Website formuliert haben, gehe ich davon aus, daß Sie mit dieser Veröffentlichung einverstanden sind. Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie dies in Ihrer nächsten Mail explizit bestätigen würden.

Ich könnte mir vorstellen, daß es danach sinnvoll wäre, andere Beiträge abzuwarten und dann gegebenenfalls in größerem Kreis das Thema weiter zu verfolgen.

mit freundlichem Gruß
Ihr Heinz Stolze


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Eberhard Storz, 1.12.2002 / Überflieger...

Sehr geehrter Herr Stolze, der Brief liegt schon Wochen...

mit Ihren letzten Ausführungen begaben Sie sich auf wissenschafts-philosophisches Terrain. Dahin folge ich Ihnen mit keiner Landkarte. Vielleicht ist "Orpheus Ruh" in der Praxis ja auf dem Luftwege erreichbar, und damit alle Spekulationen über gangbare Pfade illusorisch.

Ich liebe das Überfliegen. Sehen Sie, da trainiert und studiert ,- falls er dazu kommt -, so ein deutscher Sportstudent nach allen Regeln der Sportwissenschaft und dann kommt so ein Naturtalent aus Kenia und läuft ihn in Grund und Boden... Ähnlichkeiten mit der deutschen Gesangsszene wären nicht rein zufällig... Mich interessiert, was diesen Überflieger ausmacht.

Ich habe nie viel stimmliche Basisarbeit gemacht, hatte wenig mit Anfängern zu tun. Meine schönsten Erfolge hatte ich bei der Reparatur von lädierten Qualitätsstimmen, die andere Gesangspädagogen und namhafte Phoniater schon als Schrott deklariert hatten.

Eines macht mich etwas stutzig: Ihr fast religiös positivistisches Wissenschaftsbild. Hat nicht sogar die Naturwissenschaft spektakuläre Kehrtwendungen absolviert, und liest sich die Geschichte der Geisteswissenschaften nicht wie die Beschreibung einer Springprozession? Noch 1962 konnte Husson seine neurochronaxische, zerebrale Theorie der Stimmerzeugung vorlegen (Physiologie de la phonation. Masson, Paris, 1962) und wurde erst in den 80-gern endgültig widerlegt.

Ich möchte Ihnen einige Fallbeispiele beschreiben, mit dem gebührenden Humor, die meine Skepsis illustrieren. Wenn man liest, daß Herr Fritz Reusch, der Bearbeiter des "Kleine Hey" noch 1972 schwafelt: Der natürliche Atemrhythmus beginnt nicht mit der Einatmung, sondern mit der bewußt aktiven Ausatmung. (Darauf deutet schon hin, daß der neugeborene Säugling sein Erdendasein mit dem Schrei=Ausatmung beginnt." Zitat Ende. Das gleicht den Spekulationen bei Alavi Kia, ob nicht doch auch "Ausatmer" geboren werden. Der erste Atemzug eines Kindes im Status Nascendi entfaltet die Lunge, ist also selbstverständlich eine Einatmung. Durch diese erfolgte Einatmung unterscheidet sich eine Lebend- von einer Totgeburt. Der Klaps auf den Hintern um den Geburtsschrei zu provozieren ist nichts als eine dumme Unsitte.

Im gesamten Säugetierbereich wird diese schöne Welt ohne Geburtsschrei betreten. Bei "Nestflüchtern" wie z.B. Pferden wird der nötige Initialimpuls durch den Fall auf die Erde verursacht. Bei Nesthockern, wie z.B. Katzen durch Leckbewegungen des Muttertiers.---

Ich hoffe Sie Staunen über die "Gelehrsamkeit" eines Zielgerichteten.

Oder dann Spekulationen über "das feine Zusammenspiel von Bauchdecke und Zwerchfell beim Stützvorgang"... Mein Lehrer in den siebziger Jahren, Max Lorenz, besaß eine ungefähr 12 cm breiten Gürtel, nicht unähnlich dem eines Gewichthebers, den er mal auf dem Kostüm, z.B. als Siegfried, mal darunter , z.B. als Stolzing trug, "um dagegen zu stützen". Ich sang (Ferrando, Il Trovatore), ebenfalls in jenem Jahrzehnt, mit Nicola Martinucci als Manrico, dem damals blutjungen italienischen Startenor, - er ist noch heute Haustenor der Römischen Oper. Er besaß zum selben Behuf eine drei Meter lange Bauchbinde die sein Garderobier unter Aufbietung aller Kraft um seine Taille wickeln und festzurren mußte...

Man belächelt heute solche Hilfsmittel, weiß wissenschaftlich genau, daß Costalabdominalatmung, mit Betonung auf abdominal, den erforderlichen Tiefstand des Zwerchfells zur Beibehaltung der Einatmungstendenz garantieren kann. Ja, und dann: Ich habe als Lehrer an der Hochschule in Stuttgart eine Studentin (Koreanerin, schweres italienisches Sopranfach) bis in den achten Monat ihrer Schwangerschaft unterrichtet. Außer einer leichten Kurzatmigkeit und einem "Unbequemlichkeitsgefühl" zeigt die Stimme keinerlei Beinträchtigungen, im Gegenteil, das Timbre gewann an Schönheit. Eine Schwangerschaft verursacht, wissenschaftlich bewiesen, im achten Monat einen extremen permanenten Zwerchfellhochstand. Da ist also von Zusammenspiel von Bauchdecke und Zwerchfell keine Spur mehr. Die gesamte subtile Steuerungsarbeit des Atems wird von anderen Muskelgruppen übernommen - falls sie sich nicht ohnehin immer daran beteiligt haben. Da es sehr unwahrscheinlich ist, daß genug hochqualifizierte Sängerinnen, die auch hochschwanger sind, für eine Feldstudie zur Verfügung stehen können, wird das aber nie "wissenschaftlich" abgeklärt werden können.

Noch ein Beispiel: die Phonetik behauptet als recht junge Wissenschaft, daß die Erzeugung der Vokale auch obligatorisch vom Öffnungsgrad der Kiefer abhänge. Alle deutschen Laute lassen sich auch mit zusammengebissenen Zähnen perfekt artikulieren.

Zurück zu Ihren Thesen, die ich völlig plausibel finde. Vielleicht tragen Sie damit zu einer Demokratisierung der Gesangskunst bei (wie es der Wunsch des Vaters der „Funktionalen“ war) und verursachen eine wahre Schwemme an hochqualifizierten Über-Sängern... mich soll das nicht mehr schrecken...

Eines scheint mir evident: von Ihrer Methode ist es nur ein kleiner Sprung zum medienunterstützten Lernen, wie es ja bereits beim Biofeedback praktiziert wird. Es spricht in der Tat nichts gegen die CD- Rom zum interaktiven Gesangsunterricht, weil dadurch auch noch die Hörfehler bei der subjektiven Wahrnehmung viel schneller korrigiert werden können. Man paßt sich beim Mikrophontraining in sehr kurzer Zeit dem „über außen“ perzipierten Klang an.

Ach ja, die Öffentlichkeit. Das steht Ihnen völlig frei. Die Kernpassagen Ihrer Thesen sind ohnehin bereits mit literarischem Anspruch geschrieben, was ich zu sagen habe ist vielleicht auszugsweise von etwas Interesse.

Mit herzlichen Grüßen, Ihr
E.S.


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Heinz Stolze, 3.12.2002 / Geschwafel ignorieren...

Sehr geehrter Herr Storz, wiederum vielen Dank für Ihre interessante und engagierte Replik. Vieles ist noch offen, man könnte aber auch sagen "eröffnet" , nämlich für eine Diskussion in größerem Kreis.

Ein Vorschlag: Lassen Sie uns die von Ihnen so klar benannte Schwafelei ebenso wie die klassischen Denkkurzschlüsse getrost als Tätigkeiten einzelner Personen oder Grüppchen ansehen. Eine empirisch orientierte Wissenschaft kann das abschütteln. Das meiste Geschwafel kann man eh von vornherein ignorieren, wenn man einigermaßen klar denkfähig ist.

Eine Verteidigung der wissenschaftlichen Phonetik sei als Post Scriptum noch erlaubt.

mit herzlichem Gruß
Ihr Heinz Stolze


P.S.:
Natürlich kann ich mir lebhaft vorstellen, daß "Phonetiklehrer" in der Gesangsausbildung oft nicht unbedingt die reine Begeisterung hervorrufen. Die Phonetik als empirisch orientierte Wissenschaft beschreibt zwar die üblichen
Artikulationsweisen, behauptet aber keineswegs, daß bestimmte Kiefereinstellungen obligatorisch für die Vokalbildung seien. Die Phonetiker kennen z.B. das als Training bekannte "Korkensprechen", auch das Bauchreden ist ihnen durchaus nicht unbekannt. So wird mit modernen Methoden untersucht, wie unter der Fixierung einzelner artikulatorischer Freiheitsgrade verständlich artikulkiert werden kann. Dies geschieht übrigens, ohne daß der Sprecher/Sänger weiß, wie er es macht. (Das finde ich toll und verspüre auch keinen Impuls, das wissenschaftlich zu klären.)

Anmerkung zum Alter der Phonetik: Die "Phonetik" im Gesangunterricht (Herr Scheidemantel läßt grüßen) bezieht sich nur auf einen Teil dieser Wissenschaft, den man als moderne Experimentalphonetik bezeichnen mag. Sie hat sich parallel zu den Naturwissenschaften entwickelt, und kann insofern als "junge Wissenschaft" bezeichnet werden. Die Phonetik insgesamt ist eine der ältesten Wissenschaften - darauf sind die Phonetiker zurecht stolz. Schon im klassischen Altertum und auch davor gab es phonetische Untersuchungen.

Eberhard Storz, 30.10.2002 / Wiener Raunzer

Heinz Stolze, 31.10.2002 / Gaumen, Wissenschaft und Praxis ...

Eberhard Storz, 30.10.2002 /alles Aspekte einer Technik

Heinz Stolze, 7.11.2002 / Wanderer und Landvermesser...

Eberhard Storz, 1.12.2002 / Überflieger...

Heinz Stolze, 3.12.2002 / Geschwafel ignorieren...

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