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ERRATA VOCOLOGICA

10 Fehler und 7 Fazits

Heinz Stolze, 25.10.2012

in www.forum-stimme.de


ERRATUM 10: TONHÖHE


10.1 Die Aussage

Tonhöhe und Grundfrequenz eines Tones lassen sich ineinander umrechnen - denkt man zumindest oft. Auch etablierte Autoren werfen mitunter beides gar in einen Topf, indem sie beispielsweise schreiben "die Tonhöhe des Stimmlautes war 210 Hz". Zudem ist immer noch die Meinung verbreitet, der Grundton rufe die Tonhöhenempfindung hervor, die Obertöne formten lediglich den Klang. Die Tatsache, daß ein und derselbe akustische Ton, in verschiedene Stellen einer Melodie eingesetzt, an der einen Stelle ganz klar als "c", an der anderen als "cis" gehört werden kann, dürfte manchen überraschen. Auch wenn die Abweichung nicht groß ist, muß sie ernst genommen werden. Bedenkenswert ist auch, daß es vielen Menschen oft nicht möglich ist, die Oktavlage eines Tones zu erkennen.
Vernünftigerweise definiert man Tonhöhe als etwas, was jemand hört - und das kann von Person zu Person bei demselben Ton anders sein. Genauso kann ein akustisch identischer Schall, wie oben beschrieben, bei einem Hörer von Mal zu Mal verschiedene Tonhöhenwahrnehmungen auslösen. Ist dann die Tonhöhe wirklich eine Eigenschaft eines akustischen Schalles? Kann man dann genau genommen noch sagen, der Ton des Instrumentes "hat" diese oder jene Tonhöhe? Wenn man den akustisch abgestrahlten Schall meint, ist das sicher nicht zutreffend.


10.2 Zum Sachverhalt

Um Missverständnisse und unzutreffende Vorstellungen zu vermeiden, ist es grundsätzlich nötig, zwischen meßbaren Größen und wahrgenommenen Größen zu unterscheiden.
Für unsere Fragestellung ist die meßbare Größe die Grundfrequenz (= Periodenfrequenz) eines Tones (siehe dazu auch > Erratum 7). Sofern der Schalldruckverlauf des Tones genau periodisch ist, ist sie einfach zu ermitteln. Bei stimmhaften Tönen der Stimme (z.B. Vokalen) ist dies zumeist auch gut möglich, da diese einen annähernd periodischen (quasiperiodischen) Schalldruckverlauf haben.
Die wahrgenommene Größe ist die Tonhöhe. Mit diesem Begriff kann je nach Anwendung Verschiedenes gemeint sein, wie unten näher erläutert wird.
Wir möchten die Problematik zunächst beleuchten, indem einige Tatsachen aus dem Bereich der Wahrnehmungsforschung aufgeführt werden. Sie alle zeigen, daß keine einfache, eindeutige Beziehung zwischen Grundfrequenz und gehörter Tonhöhe besteht.

A. Tonhöhe eines Sinustones
Ein Sinuston ist ein Ton, der nur eine einzige Frequenz enthält. Diese ist somit auch seine Periodenfrequenz (= Grundfrequenz). Er hat keine Obertöne, bzw. besteht nur aus einem Teilton. Der Schalldruckverlauf eines solchen Tones ist sinusförmig.

Rechts-/Links-Differenz: Untersuchungen zeigen, daß beim Hören mit nur einem Ohr die gehörte Tonhöhe eines Sinustones auf dem linken Ohr etwas anders ist als auf dem rechten. Hört man mit beiden Ohren, nimmt man allerdings nur eine Tonhöhe war, die zwischen der rechts und der links gehörten liegt. So kann man bei einem einzigen Ton drei verschiedene Tonhöhen hören.

Grundfrequenz-Tonhöhen-Relation: Mit steigender Frequenz des Sinustones nimmt die wahrgenommene Tonhöhe zu. Im Bereich der normalerweise musikalisch verwendeten Periodenfrequenzen (etwa bis 1000 Hz, entsprechend etwa c´´´) gilt recht gut die bekannte Relation: eine Verdoppelung der Frequenz führt zur Wahrnehmung einer um eine Oktav höheren Tonhöhe. In höheren Lagen steigt die wahrgenommene Tonhöhe bei Verdoppelung der Grundfrequenz weniger an. Dies hängt mit dem anatomischen Aufbau des Innenohres zusammen.
Würde man statt eines Sinustones einen Ton mit reichlich vorhandenen Obertönen anbieten, so würde die obengenannte Relation ( Verdoppelung der Grundfrequenz führt zu einer Oktave höherer Tonwahrnehmung) auch in höheren Lagen noch gut stimmen.

Würde man einen Ton mit nur schwachen Obertönen verwenden, ist ein Ergebnis zu erwarten, das zwischen den oben beschriebenen Fällen liegt.
Bei Tönen ab der dreigestrichenen Oktave muß man also davon ausgehen, daß die gehörte Tonhöhe nicht nur von der Grundfrequenz, sondern auch von der Teiltonzusammensetzung abhängt.
Ein Beispiel: Nach Zwicker und Feldtkeller (Das Ohr als Nachrichtenempfänger (ein Klassiker der Psychoakustik)) muß man am Klavier im oberen Bereich etwa eine Quinte anschlagen (a´´´ bis e´´´´) , damit man ein ebenso weites Intervall empfindet wie bei der Terz c - e.


B. Virtueller Grundton, Schlagton.
Tritt bei einem harmonischen Ton (periodischer Schalldruckverlauf) die Grundfrequenz nicht als Teilton auf, so hört man trotzdem die dieser Frequenz entsprechende Tonhöhe. Beispiel: Männerstimme am Telefon: der tiefste Teilton wird nicht übertragen, man hört aber die "richtige" Tonhöhe.
Bei einem nicht zu extrem inharmonischen Ton (die Teiltöne entsprechen nicht der bekannten Teiltonreihe, etwa bei einer Glocke) nimmt man eine Tonhöhe wahr, die einem im Spektrum näherungsweise passenden harmoischen Ton entspricht (Schlagton).
Generell läßt sich sagen: Die Tonhöhenwahrnehmung wird aus der Struktur des gesamten Spektrums heraus gebildet. Sie läßt sich als Gestalt-Wahrnehmung (im Sinne der Gestalt-Theorie der Wahrnehmung) verstehen. Somit ist auch davon auszugehen, daß sie je nach Umgebung eines Tones anders ausfallen kann.

C. Abhängigkeit der Tonhöhenwahrnehmung von der Umgebung
Die Tonhöhe eines Tones wird an verschieden Stellen einer Melodie verschieden wahrgenommen. Dabei spielt die Erwartung bestimmter Töne in speziellen Tonfolgen eine Rolle. Die Änderung kann durch aus einen Halbton betragen.

E. Unterschied zwischen paralleler und sequentieller Darbietung
Die Tonhöhenwahrnehmung zweier Töne ist im Zusammenklang prinzipiell eine andere als beim nacheinander Spielen der Töne.

E. Paradoxa
Ein bekanntes Paradoxon ist die immerzu ansteigende Tonleiter, bei der die Töne dennoch nie den hörbaren Bereich verlassen. Sie wird mit bestimmten elektronisch erzeugten Klängen realisiert, man kann sie aber auch ganz überzeugend mit drei Spielern am Klavier vorführen. Sie beweist: Grundfrequenz und Tonhöhe sind nicht so einfach zueinander in Beziehung zu setzen. Denn bei permanent ansteigenden Grundfrequenzschritten müsste der Ton irgendwann den hörbaren Bereich verlassen.
Ein anderes Paradoxon: eine Folge von zwei Tönen, bei der man sowohl einen Anstieg der Tonhöhe als auch einen Abfall hören kann. Der eine Hörer hört dies, der ander das. Ein und derselbe Hörer kann einmal einen Anstieg, ein anderes Mal einen Abfall hören.

F. Chroma und Oktave
Die Wahrnehmung musikalischer Tonhöhen ist oft nicht sehr eindeutig in der Oktavlage, dagegen kann das Chroma (etwa c oder d etc.) wesentlich zuverlässiger wahrgenommen werden. Im Bereich der Stimme gibt es das Phänomen, daß Frauen den Ton eines Mannes (etwa beim Anstimmen im Chor) ohne nachzudenken immer eine Oktav höher nachsingen. Umgekehrt singen Männer entsprechend eine Oktav tiefer nach.

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10.3 Diskussion

Die Notwendigkeit, zwischen Akustischem (Grundfrequenz) und Gehörtem (Tonhöhe) klar zu unterscheiden, soll anhand einiger Beispiele erläutert werden.

A. Vibrato
Ein gutes sängerisches Vibrato sollte nicht als Tonhöhenbewegung gehört werden, wenngleich es eindeutig eine Grundfrequenzbewegung aufweist. Diese ist im Sonagramm eines Beispieltones (Abbildung) zu erkennen.
Das Vibrato macht den Ton informativer und im Klang prägnanter, da die Zwischenräume zwischen den einzelnen Frequenzen eines vibratolosen Tones "ausgeleuchtet" werden. Ob es nun tatsächlich nicht als Tonhöhenbewegung gehört wird, hängt von vielen Umständen und auch von den Hörgewohnheiten und dem aktuellen Hörwillen des Zuhörers ab.
Richtigerweise muß man von einem Grundfrequenzvibrato sprechen, dessen Auf- und Ab formal auch auf der Tonhöhenskala angegeben werden kann (z.B. maximale Abweichung vom Mittelwert: 1 Halbton (= 100 cent)). Das heißt aber nicht, das ein Auf und Ab der Tonhöhe gehört werden muß. Man könnte für eine solche Angabe den Begriff "formal berechnete Tonhöhe" verwenden.

B. Grundfrequenzbewegungen, die keine Tonhöhenbewegungen sind
Je nach Genre ist es zulässig und auch erwünscht, daß Töne in der Grundfrequenz gleiten. Das Ansingen hoher Töne von unten her gilt einigen Puristen generell als Unsitte, ist aber beispielsweise beim Operngesang in gewissem Maße stilprägend. Auch im populären Singen sind viele Gleitbewegungen stilgemäß. Allerdings sollten diese Bewegungen nicht als Tonhöhenbewegungen gehört werden - genau wie es beim Vibrato auch diskutiert wurde. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, daß bei traurig-verhaltenen Passagen wesentlich mehr verschliffen wird, als bei munter-fröhlichen. Wenn die Autoren solcher Untersuchungen schreiben, die Tonhöhe werde verschliffen und das mit Diagrammen nachweisen, in denen man sieht, wie die Grundfrequenz verschliffen wird, ist das genaugenommen nicht zutreffend. Denn viele Hörer hören kein Verschleifen der Tonhöhen.

C. Tonhöhenverlauf der Sprechstimme und der Singstimme
Es ist sehr schwer, den Tonhöhenverlauf einer Sprechstimme zu hören. Versuchen Sie einmal, auf der Tonhöhe einer Silbe, die jemand in einem Satz gesprochen hat, zu summen - es wird nicht einfach sein. Im Gegensatz zum Singen geht es beim Sprechen nicht darum, Tonhöhen darzustellen. So gleitet die Sprechstimme auf und ab und hat nur selten Haltepunkte, an denen eine klare Tonhöhe erkennbar ist. Sie hat auch keinen festen Bezugspunkt wie den Kammerton der Musik, an dem sich die Intonation orientiert. Insofern ist die Anwendung der Tonhöhe im Sinne einer Stufen-Skala, wie sie beim Singen benutzt wird, nicht gegeben. Genaugenommen ist es damit auch unsinnig, zu sagen, ein Sprechton habe beispielsweise die Tonhöhe c.
Der musikalische Tonhöhenbegriff ist wieder etwas anderes als der Begriff einer Tonhöhe, die nur ein mehr oder weniger hoch auf einer gleitenden Skala meint. Dabei wird vielmehr ein System von Tönen definiert, die komplexe Beziehungen zueinander haben. Diese Töne lassen sich als diskrete Kategorien der Wahrnehmung auffassen. Beim Hören einer Melodie werden alle Töne dementsprechend kategorial eingeordnet.

Hub des Vibratos in der Grundfrequenz: 8 Hz,
in der formal berechneten Tonhöhe: 1 Halbton (100 cent)
Der Vibratohub in der Frequenz der einzelnen Teiltöne ist um so größer, je höher die Teiltöne sind. Der Vibratohub in der formal berechneten Tonhöhe ist für alle Teiltöne gleich groß.

Erklärung: Das berechnete Tonhöhenintervall ergibt sich aus dem Verhältnis der Grundfrequenzen. Beispiel: 2 : 1 ergibt eine Oktav, 3 : 2 eine Quinte, 80 : 1300 = 8 :130 ergibt ca. einen Halbton.

Zum Klang eines Tones mit Vibrato
Liegt ein Ton vor, der an einer Stelle ein ähnliches Vibrato hat, wie oben gezeigt, an anderer recht "gerade" verläuft, so kann man beide Stellen nacheinander zum Vergleich vorspielen. Dabei ist zu hören, daß der Klang mit Vibrato viel prägnanter ist. Hört man beispielsweise auf die Qualität des Vokales (A), so ist dieser mit Vibrato deutlicher vernehmbar. Manche Hörer beschreiben den Zugewinn an Klang als " wie mit einer zusätzlichen Dimension" ausgestattet.
Bemerkenswert ist auch, daß jeder Teilton durch das Auf und Ab im Durchlaufen eines Vibratozyklus mehr oder weniger nahe an Resonanzen des Vokaltraktes kommt und so einen individuellen Lautstärkeverlauf entwickelt. Dies ist erkennbar an der Farbänderung der "Teiltonwellen" im Sonagramm (rot=lauter, gelb=leiser). Auch daran ist zu sehen, daß ein Ton mit Vibrato komplexer und informativer ist als einer ohne.

Zum gehörten Tonhöhenhub
Spielt man den Ton ohne etwas dazu zu sagen vor und fragt danach, ob er eine konstante Tonhöhe habe, so wird das zumeist bejaht. Spielt man nun folgendes vor: ein kurzes Stück um die tiefste Phase des Tones, dann eines um die höchste, dann diese Ausschnitte mehrmals im Wechsel, dann wieder den Originalton, so hören die meisten Leute nun deutlich ein Auf und Ab der Tonhöhe.


10.4 Zusammenfassung

Die Tonhöhenwahrnehmung ist in der Psychoakustik ausführlich erforscht. Dabei werden auch verschiedene Begriffe vorgeschlagen. Andererseits ist im Bereich der Publikationen über die Stimme das Bewußtsein, daß (Grund)Frequenz und Tonhöhe Begriffe sind, die sozusagen aus verschiedenen Welten stammen, anscheinend kaum vorhanden.
Im Prinzip sollte man zumindest die folgenden vier Größen unterscheiden, für die leider keine allgemeingängigen Begriffe bestehen.

Akustik
A: Die Grundfrequenz oder Periodenfrequenz
B: Die aus dieser formal berechnete Tonhöhe (Logarithmus der Grundfrequenz)

Wahrnehmung
C: Die gehörte Tonhöhe eines separat dargebotenen Tones (gleitende Tonhöhenskala)
D: Die gehörte musikalische Tonhöhe (in Stufen skaliert)


Eine klare Unterscheidung dieser Begriffe bei der Beschreibung von Stimmphänomenen ist zwar mühsam, aber lohnend.

Die zunächst vielleicht befremdliche Aussage
"Die Schallwelle eines Tones hat keine Tonhöhe"

mag nach den obigen Ausführungen nun eher nachvollziehbar sein. Vor allem mag sie zum Nachdenken anregen, wie die beschriebenen Sachverhalte möglichst klar dargestellt werden können und wie sie bei der Beschreibung von Stimmphänomen berücksichtigt werden sollten.

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