forum-stimme, animiert Zur Startseite von forum-stimme.de
Übersicht über eine Vielfalt von
Themen im Bereich der menschlichen Stimme

Zu den Themenlisten
Wissen / Journal / Praxis

Liste von Stimm- und Sprechtrainern sowie Gesangslehrern
in Deutschland
mit Kurzportraits


HINWEIS: Wenn Sie per Weiterleitung auf diese Seite gelangt sind, aktualisieren Sie bitte jetzt von dieser Seite aus Ihre Daten (Favorit bzw. Lesezeichen / Notiz der Seiten-Adresse (URL) etc.).
Diese Seite wird demnächst nicht mehr unter der alten Adresse (URL) erreichbar sein.

ERRATA VOCOLOGICA

10 Fehler und 7 Fazits

Heinz Stolze, Oktober 2004, letzte Änderung am 24.10.2012

in www.forum-stimme.de


ERRATUM 2: PRIMÄRKLANG-FILTER-MODELL - SEINE ÜBLICHE VERBREITUNG UND REZEPTION


2.1: Die Aussage
Die Funktion der Stimme wird wie folgt beschrieben: in den Vokaltrakt tritt eine primäre Schallwelle ein, die ein vorgegebenes Schwingungsspektrum hat und aus dem Mund tritt eine durch den Vokaltrakt modifizierte Welle mit entsprechend geändertem Spektrum aus, das dann die typischen Formanten aufweist (Abbildung, wie sie in vielen Lehrbüchern zu finden ist, i.w. nach J. Sundberg, 1988: Die Singstimme, in: Die Physik der Musikinstrumente, Spektrum-der-Wissenschaft-Verlagsgesellschaft, Heidelberg, p. 14-21). Der Vokaltrakt ist gekennzeichnet durch eine Filterkurve, die die Änderung zwischen Eintrittsspektrum und Ausgangsspektrum beschreibt. Die Resonanzen dieser Kurve bilden die Formanten aus.
In vielen Büchern wird dieses Modell als ein physikalisches Modell der Stimmfunktion verbreitet.


2.2: Zum Sachverhalt
2.2.1 Energieerhaltung: Man muss sich zunächst klar machen, daß mit einem Amplitudenspektum nur der stationäre Fall beschrieben werden kann. Das heißt, das System ist eingeschwungen, es gibt keine zeitlichen Änderungen der Schwingungsamplituden mehr. Bezugnehmend auf die Überlegungen zur Energieerhaltung (unter Erratum 1. Verstärkung durch Resonanz) ist festzustellen, daß am Ausgang des Vokaltraktes nicht mehr Energie herauskommen kann als am Eingang hineingeht. Dies gilt für jede einzelne Frequenz. Also kann auf keiner Frequenz am Mund ein höherer Schallpegel austreten, als glottisseitig eintritt.
Richtig ist: Der Energieübertrag von der "Quelle" an den Vokaltrakt ergibt sich im Zusammenspiel beider Systeme. Es läuft im stationären Zustand keinesfalls eine Schallwelle in den Vokaltrakt, deren Energie (auf den einzelnen Frequenzen) unabhängig von den akustischen Eigenschaften des Vokaltraktes allein durch die Quelle bestimmt ist.


>

2.3.3 Ist der Vokaltrakt ein Filter? So mancher versteht dieses Modell so! Es ist reizvoll, darüber nachzudenken. Natürlich ist er kein Filter an sich, wie etwa ein Ölfilter oder ein Staubfilter. Aber vielleicht ist seine akustische Funktion die eines Filters, oder nicht? Meine Meinung ist: Nein - jedenfalls nicht zwingend. Hier wird es jetzt unvermeidlicherweise etwas philosophisch. Meine These ist: Die Dinge sind keineswegs das, als was sie sich funktional betrachten lassen. Auch die Funktionen, die man ihnen durchaus zutreffend zuschreiben kann, sind nicht eindeutig. Ein und denselben Prozeß kann man auch funktional anders beschreiben. Der Vokaltrakt als Echogeber kann mathematisch mit demselben allgemeinen Algorithmus beschrieben werden, wie der Vokaltrakt als Filter. Die Primärklang-Filter-Theorie bzw. den Linear-Response-Algorithmus können Sie auf alles anwenden: auf ein Stück Käse, eine Maus, einen Space Shuttle. An einer Stelle wird das Objekt angestubst, an einer anderen registriert man die Vibrationen. Das was dazwischen ist, ist das "Filter", es filtert den "Input" und macht ihn damit zum "Output". Selbst wenn alles formal richtig berechnet würde: der Vokaltrakt ist kein Filter. Er ist eben das was er ist. Dabei kann er sehr wohl funktional als Filter betrachtet werden, aber auch -was ich viel netter finde- als Klangraum. Beides steht -auch in entsprechenden mathematischen Formulierungen- keinesfalls in Widerspruch zueinander.

2.4 Zusammenfassung
Das Primärklang-Filter-Modell ist so, wie es derzeit publiziert und rezipiert wird, nicht überzeugend.

Vor allem ist es kaum geeignet für praktische Arbeit an der Stimme. Beispielsweise wird kaum ein Sänger glauben, daß er primär mit dem Kehlkopf einen Klang erzeugt, ganz unabhängig davon, ob er seinen Vokaltrakt auf den Vokal A oder auf den Vokal I eingestellt hat. Die im Gesangspädagogischen gängige Bezeichnung für den Vokaltrakt, "Ansatzrohr", trifft die akustischen Gegebenheiten tatsächlich recht gut: die Einstellung der "Ansatzrohrform" bestimmt wesentlich die Tonerzeugung.

Das, was mit dem Primärklang-Filter-Modell erklärt werden soll, ließe sich viel besser verstehen, wenn man es in zeitlicher Abfolge beschriebe (Responsefunktion und Faltung). Beides sollte man dann auch als das ausgeben, was es zunächst einmal ist: ein physikalisches Modell der akustischen Wirkung des Vokaltraktes. Wie dessen Zusammenwirken mit der akustischen Kehlkopffunktion zu beschreiben ist, wäre zusätzlich zu überlegen. In einer zeitlichen Darstellung ließen sich die Probleme der Anwendung auf die Stimme viel klarer aufzeigen und die praktische Anwendbarkeit wäre besser erkennbar als in der Frequenzdarstellung. Diese ist zudem nur nach ausführlicher Einführung sinnvoll. Zum Beispiel müsste geklärt werden was unter Frequenz zu verstehen ist.

Vielen Lesern und Autoren ist offenbar nicht klar, daß das Modell in der üblichen Form vor allem eine Möglichkeit ist, die akustische Funktion des Vokaltraktes zu beschreiben. Man kann ihn ebensogut als Filter beschreiben wie als einen Echoraum (Klangraum). Ein klares Verständnis entwickelt sich nur, wenn man erkennt, daß dies kein Widerspruch ist, sondern bestens zusammenpaßt. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema "Frequenzdarstellung" ist dazu erforderlich (Siehe dazu unter: Darstellung).

Das Verständnis des Modells und seiner Bedeutung würde sehr erleichtert, wenn die Leser erführen, daß es auf einem Algorithmus beruht, der eine Standardmethode der Nachrichtentechnik ist. Eine Diskussion der Bedingungen, unter denen die Anwendung dieser Methode auf die Stimmproduktion sinnvoll ist, gehört unbedingt dazu.

2.2.2 Dämpfung als weitverbreitete, falsche Erklärung: Viele Autoren sehen das Dilemma und meinen, den Sachverhalt nun so erklären zu können, daß natürlich keine Verstärkung eintritt, die Umformung des Spektrums daher so zu verstehen sei, daß die Schallenergie auf bestimmten Frequenzen durch Dämpfung im Vokaltrakt stärker als auf anderen reduziert wird. Dies ist klipp und klar gesagt der Gang vom Regen in die Traufe. Zwar kann eine Dämpfung prinzipiell eintreten, aber sie erklärt gerade nicht die durch die Resonanz entstehenden Formanten. Je mehr Dämpfung, um so weniger Resonanz! Dämpfung ist ein Energieentzug, der Resonanzen verflacht. Daher ist es absurd, die durch Resonanzen entstehenden Strukturen mit Dämpfung zu erklären. Die richtige Erklärung ist (siehe oben) eine besonders gute akustische Anpassung auf bestimmten Frequenzen. Es geht eben sozusagen von vorn her (glottisseitig) mehr Energie in die bevorzugten Frequenzen als in die anderen.

2.2.3 Richtige Vorstellung einer primären Schallwelle:
Einerseits ist das oben beschriebene, viel abgeschriebene Konzept einer Primärwelle (Leistungsspektren) unzutreffend, andererseits kann in zeitlicher Darstellung eine primäre Welle sinnvoll postuliert werden. Sie tritt von der Glottis ausgehend in den Vokaltrakt ein, breitet sich aus, wird reflektiert, überlagert sich mit sich selbst, und schließlich entsteht ein bestimmtes Schwingungsmuster. Dies kann als das Einschwingen des Vokaltraktes (genauer der Luft darin) angesehen werden. Nach einer bestimmten Zeit kann es dann zu einem stationären Zustand führen, der mit einem Leistungsspektrum beschrieben werden kann. Der vorangehende Prozess selbst kann nicht mit Leistungsspektren beschrieben werden, da diese die zeitliche Entwicklung nicht ausdrücken.

2.2.4 Ein physikalisches Modell des Stimmfunktion sieht anders aus: Es ist unverkennbar, daß dieses Modell von der Idee der elektrischen Stimmsynthese aus entwickelt wurde. Auch wenn diese damit mehr oder weniger gut funktioniert, läßt das keineswegs den Schluß zu, daß die menschliche Stimme auch dem Modell entsprechend funktioniert. Die mathematische Struktur entspricht dem in der Nachrichtentechnik gängigen Linear-Response-Modell. Der Ausgangspunkt ist der Stimmschall, wie er aus dem Mund austritt. Ein wirkliches physikalisches Modell der Stimme geht von den physikalischen Gegebenheiten der an der Stimmbildung beteiligten Systeme aus: den Stimmlippen, dem Vokaltrakt, dem Luftweg, dem Luftdruck. Bei bestimmten Einstellungen kann es zur Schallerzeugung kommen - muss es aber nicht.
Ein solches Modell gibt dann genauer Auskunft, unter welchen Bedingungen überhaupt Schall entsteht, und wie seine Grundfrequenz (bzw. die zugehörige Tonhöhe) von den verschiedenen Einstellungen abhängt. Das Primärklang-Filter-Modell setzt einen fertigen Stimmschall voraus und interpretiert dann seine Zusammensetzung als eine Überlagerung von Stimmlippen- und Vokaltraktfunktion. Dabei wird es in den üblichen Publikationen nicht sauber physikalisiert. Die Benennung der Größen, die in den Kurven dargestellt werden, haben nichts mit konkreter Akustik zu tun. Das heißt, es werden keine Aussagen über Schalldruck oder vergleichbar Konkretes gemacht, sondern "weiche" Begriffe eingeführt, wie "Stimmbandspektrum", "hörbares Schallspektrum", "Resonanzkurve des Stimmapparats". Auch die Verwendung des Begriffes "Amplitude" für diese Kurve ist nicht glücklich.


2.3 Diskussion
2.3.1 Lineare Antwort (Linear Response):
Der mathematische Hintergrund des Modells ist ein Standardverfahren, das in der theoretischen Physik, der Elektrotechnik (speziell Nachrichtentechnik), der Schwingungsmechanik etc. verbreitet ist. Es kann im Bereich von Frequenzen (mit Spektren) oder im Zeitbereich (mit zeitabhängigen Funktionen) berechnet werden. In der Elektrotechnik ist die Berechnung im Frequenzbereich üblich. Die Missverständnisse im Bereich der Anwendung auf die Stimme rühren weitgehend davon her, daß beide Darstellungen in unzutreffender Weise miteinander vermischt werden. Viele Buchautoren und natürlich auch Leser sind mit der Frequenzdarstellung und einem gekonnten Wechsel zur Zeitdarstellung überfordert. Siehe dazu unter: Darstellung.

2.3.2 Der Transferversuch des elektrotechnisch-theoretischen Modells in das Allgemeinverständliche überzeugt nicht: Der Versuch, die Zusammenhänge durch Vermeidung physikalischer Begriffe (Achsenbezeichnungen der Diagramme) verständlich zu machen, gelingt nicht. Eine klare Physikalisierung würde die Schwachstellen offenlegen. Die meisten Autoren, die dieses Modell zur Beschreibung der Stimmfunktion nutzen, geben vorher keine ausführliche Beschreibung der Phänomene, die zwingend zur Beschreibung der Stimmfunktion gehören: Luftdruck, schwingende Stimmlippen, Strömung. Ist die Luftströmung durch die Glottis in den Vokaltrakt hinein gleichmäßig (laminar) oder turbulent, mit Wirbeln, oder als Jet (abgelöst von der Wandung) ausgebildet? Wie strömt sie in den Vokaltrakt ein? Wo und wie kann dabei eine Schallwelle entstehen? Was genau ist überhaupt eine Schallwelle, wie wird sie erzeugt, wie breitet sie sich aus, wie wird sie reflektiert? Eine klare Vorstellung, was Frequenzen sind, und was ein Spektrum aussagt, ist oft ebensowenig vorfindbar.

weiter >


weitere ERRATA VOCOLOGICA