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ERRATA VOCOLOGICA

10 Fehler und 7 Fazits

Heinz Stolze, Januar 2005, letzte Änderung am 24.10.2012

in www.forum-stimme.de


ERRATUM 6: IM TAKT DES SCHALLES TANZENDE LUFTMOLEKÜLE


6.1 Die Aussage
Die Schallwelle ist bekanntlich eine sich im Raum ausbreitende Schwingung. Nur was ist es eigentlich, was dabei schwingt? Sowohl in Sachbüchern für weite Leserkreise als auch in Fachbüchern findet sich die Vorstellung, daß die einzelnen Luftmoleküle sozusagen im Takt der Musik auf und ab oder hin und her hüpfen. So nett sich das anlässt und so ergreifend es auch sein mag, wenn selbst in mikrokosmischen Individuen die Musik wirkt, so grundfalsch ist es - jedenfalls für den Schall in Gasen, also auch in der Luft.

Nebenbei bemerkt: wer sich ernsthaft dafür interessiert, wie der Stimmschall entsteht, wird mit dieser Vorstellung von einer Schallwelle wohl kaum auf einen grünen Zweig kommen.

6.2 Zum Sachverhalt
Es ist wirklich faszinierend, sich näher damit zu beschäftigen, wie sich die Moleküle der Luft bewegen. Wir haben dies recht anschaulich beschrieben auf der Seite "Luft - molekular - Ein Einblick in die molekulare Struktur der Luft". Es ist eine der meistbesuchten Seiten von forum-stimme.de. Die Abbildung rechts stammt von dieser Seite. Um das Folgende zu verstehen, sei empfohlen, zunächst diese Seite zu lesen.

Die Grundaussage ist: ein einzelnes Molekül fliegt die meiste Zeit geradeaus, sozusagen durch das Vakuum. Ganz selten und ganz kurz stößt es auf ein anderes. Die Wirkung der (sehr schwachen Anziehungskräfte) zwischen den Molekülen und die Wirkung der Erdanziehung (Gravitation) spielt praktisch auf dem Flugweg keine Rolle, daher fliegt ein Molekül auf einer geraden Bahn. (Ausnahme: die zufälligerweise extrem langsam fliegenden. Ihre Bahn ist erkennbar parabolisch.) Da ein Gasmolekül keine Bodenhaftung hat und auch keinen Düsenantrieb, kann es nun wirklich nicht hin und her schwingen oder sonstwie im Takt des Schalls bzw. der Musik "tanzen".

molekulare Struktur von Luft
Molekulare Struktur von Luft bei Raumtemperatur und Normaldruck
a:
Moleküle in Bewegung. Bei einigen ist ihre Geschwindigkeit als blauer Pfeil dargestellt.
b: Typischer Weg eines Moleküls in zehnfach geringerer Vergrößerung als Teilbild a
c: Kraftwirkung auf eine Wand durch molekulare Stöße
Was schwingt nun also bei einer Schallwelle in der Luft, wenn nicht die einzelnen Moleküle. Es ist eine physikalische Größe, der Druck. Er geht auf und ab. Der Druck ist nicht an einem einzelnen Molekül erkennbar. Um ihn zu messen, müsste man eine Fläche in die Luft halten und registrieren, welche Kraft auf sie durch die Stöße der Luftmoleküle einwirkt. Üblicherweise sind solche Flächen einige Quadratmillimeter groß (Öffnung eines Rohrmanometers, Fläche eines elektrischen Drucksensors) oder auch im Bereich von Quadratzentimetern (Membranen von Mikrofonen). Selbst in einer tausendstel Sekunde stoßen Abermilliarden von Molekülen auf diese Meßfläche. Der gemessene Druck läßt sich als eine statistische Eigenschaft der Flugdaten (Geschwindigkeit, Flugrichtung, Masse) all dieser Moleküle verstehen. Oder anders gesehen: Der Druck, der in einem Kubikmillimeter Luft herrscht, ist berechenbar aus den Flugdaten aller darin enthaltenen Moleküle - 30 000 000 000 000 000 Stück. Läuft eine Schallwelle durch dieses Volumen, so ändert sich diese statistische Größe "Druck" periodisch, sie schwankt auf und ab. Dies beruht auf einer Hin- und Herbewegung der Moleküle, die sich den unregelmäßigen Bewegungen (Abb. b) überlagert und dazu führt, daß mal etwas mehr, mal etwas weniger Moleküle in dem Meßvolumen sind.

Es wäre nun reizvoll, genauer zu beschreiben, wie das genau geht, und wie die Bewegungen (Schallschnelle) und die Druckänderungen sich gegenseitig in Schwung halten und ausbreiten. Vor allem wäre es interessant, auf molekularer Ebene ein Bild von der Entstehung des Stimmschalls im Kehlkopf und Vokaltrakt zu entwerfen. Dies ist im Rahmen dieser Errata-Serie allerdings nicht realisierbar.


6.3 Diskussion
Wie kommt es zu der falschen Vorstellung der tanzenden Moleküle. Zwei Gründe sind erkennbar:

a) Metaphysischer Drang: Ohne daß man sich wirklich um die Fakten kümmert, philosophiert man gern eine besondere Bedeutung in die physikalische Welt hinein. Etwa in dem Sinne: ist es nicht toll, wie selbst das einzelne Luftmolekül in seinen Bewegungen die Schallwelle und damit die Musik perfekt wiedergibt? Da braucht es uns auch nicht zu wundern, daß die Musik uns so tiefgreifend berührt!

b) Übertragung aus dem Federkettenmodell
In Akustikbüchern wird die Schallwelle oft anhand einer Federkette erklärt. Eine Reihe von kugelförmigen Massen ist durch Spiralfedern miteinander verbunden. Zeichnungen zeigen, wie sich die Auslenkung einer solchen Masse längs der Kette wellenförmig ausbreitet. Dies ist auf feste Körper übertragbar, nicht aber auf Gase. Bei ihnen fliegen die Moleküle ja frei herum und sind nicht an bestimmte Plätze gebunden, um die herum sie schwingen können.

Anmerkung am Rande: Aber auch, wenn man sich die Bewegung der Schallwelle in einem Festkörper vorstellen möchte, ist man gut beraten, sich über die Größenordnungen klar zu werden, die nämlich ein ganz anderes Bild zeigen als im Lehrbuch. Bei einer Schallwelle von 200 Hz in Stahl ist die Wellenlänge etwa 29,8 Meter, längs dieser Strecke liegen etwa 12 000 000 000 000 Moleküle. Der Abstand von Molekül zu Molekül wird durch die Schallwelle nur minimal geändert, und auch diese Moleküle bewegen sich bereits ohne Schallwelle, und zwar um ihre mittlere Lage herum mehr oder weniger wild in alle möglichen Richtungen. Ein Beobachter, der über ein "Supermikroskop" ein paar Moleküle im Bild sähe, könnte an der Bewegung eines einzelnen Moleküls wohl kaum die Schwingung einer Schallwelle erkennen.

6.4 Zusammenfasung
Die Vorstellung der im Takt des Sprechschalles, Singschalles oder der Musik von Instrumenten tanzenden Moleküle ist sehr anschaulich und offenbar in ihrer Einfachheit und wegen der Vermenschlichung der Moleküle verführerisch. Andererseits ist die physikalisch korrekte Darstellung keinesweg unanschaulicher oder uninteressanter. Sie bietet außerdem die Möglichkeit, das wichtige Thema der Schallentstehung im Kehlkopf und Vokaltrakt anschaulich und realitätsnahe darzustellen.

Es ist noch anzumerken, daß auch jede Vorstellung von der Entstehung des Stimmschalles als unsinnig anzusehen ist, die zu erklären versucht, wie dabei einzelne Moleküle auf eine Art "Zappelweg" gebracht werden, also sich im Takt der Schallwelle hin und her bewegen. Insofern ist es auch und gerade für das Denken über die Stimme und die Stimmpädagogig wichtig, diese Vorstellung als Absurdität zu erkennen.


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