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Wissen, Lehrmittel, Diskussion
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Rubrik
Fachbegriffe
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Thema
Tragfähigkeit/ Sängerformant/ Polyphoniefähigkeit
Heinz Stolze, Institut für Stimme und Kommunikation, Bremen

Tragfähigkeit und Sängerformant - Vertiefung einer geläufigen Erklärung

Die klassisch ausgebildete Sängerstimme verfügt aufgrund des Sängerformanten über eine besondere Tragfähigkeit. Das heißt: sie kann sich gegenüber dem Orchester und gegen Störgeräusche besser durchsetzen als eine Stimme ohne Sängerformant.

Dazu hat J. Sundberg anhand von Messungen an der Stimme Jussi Björlings ein in fast allen Büchern über die Sängerstimme zitiertes Diagramm publiziert. Eine allgemeinverständliche Darstellung findet sich in :

Sundberg, J.: The Acoustics of the Singing Voice, Scientific American, 3/1977
Deutsch in : Winkler, K.: Die Physik der Musikinstrumente (Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung), Heidelberg 1988; ISBN 3-922508-49-2

Obwohl viele diese Arbeit zitieren, ist kaum jemanden aufgefallen, daß die Erklärung für die Tragfähigkeit auf halbem Wege stecken geblieben ist.
Dies ist wie folgt zu verstehen: Die Darstellung zeigt, daß die gemessene Sängerstimme etwa im Bereich von 2000 bis 3000 Hz gut 10 dB über dem durchschnittlichen Orchesterpegel liegt. Im Bereich der Grundtöne (ca unter 500 Hz) liegt sie deutlich darunter.
Mit der hohen Energie im Sängerformantbereich kann sich der Sänger also in diesem Bereich gegen das Orchester durchsetzen. In anderen Bereichen wird die Stimme eher verdeckt. Die dort liegenden Teiltöne der Sängerstimme sind dann nicht hörbar. Das hieße: man würde an einer lauten Orchesterstelle das Orchester und hohe Teiltöne des Sängers hören. Dies wäre keineswegs ein berauschender Genuß. Man hört jedoch mehr von der Stimme, weil das Gehör über besondere Fähigkeiten verfügt, aus akustischen Teilbereichen der Sängerstimmemehr einen Gesamteindruck von Stimme entstehen zu lassen . Diese Rekonstruktionsarbeit läuft auf verschiedenen Ebenen ab. Zwei dabei bedeutsame Mechanismen seien hier erwähnt:
a) Die Bildung einer virtuellen Tonhöhe, die durch Frequenzen in der Umgebung der Frequenz des zugehörigen Grundtones nicht störbar ist
b) Die Vibratokennzeichnung: das Vibrato kennzeichnet jeden Teilton des Sängers gegenüber Beiträgen des Orchesters. So ist ein "Herausfischen" der Sängerteiltöne aus einem komplexen Klanggemisch möglich. Dabei können möglicherweise auch Teiltöne, die die Lautwahrnemung (z. B. Wahrnehmung bestimmter Vokale) auslösen, noch ausgewertet werden, die ohne die Vibratomarkierung voll verdeckt würden.

Die Ausbildung einer virtuellen Tonhöhe
Wir gehen etwas näher auf a) ein. Ein Beispiel der Wahrnehmung virtueller Tonhöhen ist der "Akustische Baß" bei Orgeln. Da tiefe Pfeifen sehr groß sein müssen (z.B. 16 Fuß bei recht großem Durchmesser), kann man viel Material und Geld einsparen, wenn man einen tiefen Ton mit kleineren Pfeifen wesentlich kleineren Durchmessers herstellen kann.

Ein Beispiel:
Man möchte ein A vier Oktaven unter dem Kammerton (also auf 27,5 Hz Grundfrequenz) erzeugen. Die Pfeife müsste ca 6,20 m lang sein. Stattdessen läßt man gleichzeitig zwei Pfeifen erklingen: eine auf der Oktav darüber (Pfeife I: 55 Hz Grundfrequenz/ 3,10 m lange Pfeife) und eine auf der über dieser liegenden Quinte (Pfeife II: 82,5 Hz/ 2,07 m lange Pfeife). Diese Pfeifen erzeugen nun Frequenzen, die genau auf der Teiltonreihe des gewünschten tiefen A liegen
Teilton 1: 27,5 Hz (nicht abgedeckt durch die beiden Pfeifen)
Teilton 2: 55 Hz = Teilton 1 von Pfeife I
Teilton 3: 82,5 Hz= Teilton 1 von Pfeife II
Teilton 4: 110 Hz= Teilton 2 von Pfeife I
Teilton 5: 137,5 Hz (nicht abgedeckt durch die beiden Pfeifen)
Teilton 6: 165 Hz = Teilton 2 von Pfeife II= Teilton 3 von Pfeife I
etc

Zwar fehlen bei der von den beiden Pfeifen zusammen erklingenden Teiltonreihe der tiefste Teilton und einige andere, aber das Gehör erkennt sozusagen trotzdem den zugrundeliegenden "Sprossenabstand" der Teiltonreihe im Frequenzbereich. Dies ist vergleichbar mit dem Phänomen, daß man mit dem Auge in einem Liniensystem wie bei liniertem Papier den Zeilenabstand auf einen Blick erkennt, auch wenn einige Zeilen ausgefallen sind.
Versuche mit herausgefilterten Teiltonkomplexen zeigen, daß man auch den Grundton hören kann, wenn nur im Bereich hoher Frequenzen einige benachbarte Teiltöne vorhanden sind.
Beispiel: ein Sänger singt den Ton A eine Oktav unter dem Kammerton (also auf 220 Hz Grundfrequenz). Man filtert daraus nur den Bereich von 2000 Hz bis 3000 Hz heraus. Darin liegen die Teiltöne 10 (2200 Hz), 11 (2420 Hz), 12 (2640 Hz), 13 (2860 Hz). Der gesungene Grundton wird -als sogenannter virtuelle Wahrnehmung- deutlich gehört. Außerdem wird er auch als sogenannter Differenzton im Innenohr erzeugt, was hier nicht näher erläutert werden soll.
Dieser virtuelle Grundton hat nun einen bedeutsamen Vorteil: er kann von einem starken realen Teilton eines Instrumentes oder einer Störung bei 220 Hz oder in der näheren Umgebung nicht verdeckt werden.
So entsteht die Tragfähigkeit durch den Sängerformanten derart, daß man nicht nur hohe Klanganteile über dem Orchester hört, sondern auch die Tonhöhe verfolgen kann.

Bedeutung für polyphones Musizieren

Dieser virtuelle Grundton übt übrigens auch selbst keine verdeckende Wirkung auf Teiltöne anderer Schallquellen im Bereich um 220 Hz aus. Das heißt, daß mit dem Sängerformanten auch die Wahrnehmung polyphoner Strukturen im Zusammenklang einer Stimme mit Instrumenten erheblich verbessert werden kann. Das läßt sich verallgemeinern zu der Aussage, daß Instrumente mit verschiedenen Formantlagen für polyphones Zusammenspiel besonders geeignet sein können.

Zum Abschluß noch ein kurzer Rückschwenk zur Orgel: bei ihr spielen die Mixturen eine ähnliche Rolle wie der Sängerformant in der klassisch ausgebildeten Sängerstimme. Allerdings überstreichen sie oft einen breiteren Frequenzbereich - bei weniger guter Disposition einen zu breiten.

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