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ERRATA VOCOLOGICA

10 Fehler und 7 Fazits

Heinz Stolze, Dezember 2004, letzte Änerung am 24.10.2012

in www.forum-stimme.de


ERRATUM 5: DIE RESONANZKAMMERTHEORIE


5.1 Die Aussage

Die "Resonanzkammertheorie" besagt, daß bei der Vokalbildung der Vokaltrakt durch eine Verengung quasi in zwei Teilresonatoren aufgeteilt wird. Dazu heißt es: Die Resonanz des größeren Teilraumes entspreche dem ersten (tiefsten) Formanten, die des kleineren dem zweiten.
Im Bereich der Phonetik ist diese Vorstellung auch in folgender Form verbreitet: der erste Formant (F1) entstehe im Rachenraum (blau), der zweite (F2) im Mundraum (rot) , der dritte (F3) im Nasenraum. Diese Vorstellungen sind oft noch damit verbunden, daß die Grundfrequenz als "Hauptformant" (F0) bezeichnet wird, der im Kehlkopf durch die Schwingungen der Stimmlippen entstehe. Auf diese unzutreffende Formant-Vorstellung wird unter Erratum 7 näher eingegangen.


5.2: Zum Sachverhalt

Bei der Betrachtung der Stimmfunktion ist es wichtig, ein Gefühl für Größenordnungen zu entwicklen. Zu bestimmten Schallfrequenzen gehören bestimmte Wellenlängen und typische Resonatorenlängen. Das kennt man zum Beispiel von den Flöten her, deren Tonhöhe (akustisch relevante Größe: Grundfrequenz) durch die Länge der Rohre festgelegt ist. Die akustisch wirksame Länge wird dabei durch das Decken der Löcher bestimmt.

Zur Größenordnung:
Eine Sopranblockflöte spielt bei voll abgedecktem Rohr ihren tiefsten Ton (c´´), entsprechend der tiefsten Resonanzfrequenz des Rohres von 523 Hz. Die Rohrlänge (Aufschnitt bis Öffnung) ist dafür 33 cm. Für ein Instrument, das eine Oktav tiefer spielt, wie die Tenorflöte ist die Länge 66 cm.

Nun soll ein Teil des Vokaltraktes, der Rachenraum, der in etwa 10 cm lang ist, eine tiefste Resonanzfrequenz von 250 Hz (ungefähre Frequenz des ersten Formanten (F1) bei I und U haben? Nach unserem Vergleich mit den Flöten dürfte die Resonanzfrequenz bei etwa dem Dreifachen des tiefsten Sopranflötentones liegen. Genauer bei 33/10*523 Hz = 1726 Hz !

Wir haben allerdings eine wichtige Sache bisher nicht berücksichtigt: die Resonanzfrequenz der Luft in einem Rohr hängt davon ab, wie die Enden des Rohres akustisch /mechanisch gestaltet sind. Die beiden typischen Fälle sind "offen" oder "zu". Bei einer Flöte ist das untere Ende "offen", das obere beim Aufschnitt ebenso. Auch die meisten Orgelpfeifen haben ein offenes Rohr aufgesetzt. Unter ihnen gibt es aber auch solche, bei denen man die Öffnung des Rohres abgedeckt hat, die gedackten Pfeifen. Sie spielen eine Oktav tiefer, die tiefste Resonanzfrequenz ist also halb so groß wie bei den offenen Pfeifen. Das bringt im obigen Frequenzvergleich eine Verbesserung um den Faktor zwei. Denn der Rachenraum des Vokaltraktes kann zumindest näherungsweise als unten (glottisseitig) geschlossen und oben offen angesehen werden. Man könnte also eine tiefste Resonanzfrequenz von ca. 863 Hz erwarten, nicht aber 250 Hz.

Apropos Flöte: Unsere bewährten und beliebten Sensibilisierungsflötchen für das Stimmtraining, die auf 3000-5000 Hz ausgelegt sind, sind auch gedackt. Für die tiefste Frequenz von 3000 Hz ergibt sich eine Länge von etwa 3 cm.

Faustregel: Um ein Gefühl für Größenordnungen zu bekommen kann man folgende Faustregel anwenden. Länge und Frequenz eines gedackten Resonators verhalten sich wie folgt:

3 cm <> 3000 Hz

9 cm <> 1000 Hz

30 cm <> 300 Hz

Für einen auf beiden Seiten offenen Resonator gelten die doppelten Frequenzwerte.

(Ungenauigkeit der Faustregel: bei 20 Grad Celsius Lufttemperatur ist die angegebene Frequenz ca. 5% zu hoch)

In der Akustik werden ungedackte Resonatoren (offen-offen) auch als Lambda-Halbe-Resonatoren bezeichnet, da in ihre Länge genau eine halbe Wellenlänge (Bezeichnung: Lambda) einer Schallwelle mit der tiefsten Resonanzfrequenz paßt.

Gedeckte Resonatoren sind Lambda-Viertel-Resonatoren.

Das Bild unten zeigt die Betrachtung der Größenordnungen, die wir zunächst anhand von Flöten beschrieben haben etwas allgemeiner.

Ein zweiter Fundamentalirrtum der Resonanzkammervorstellung ist der, daß man annimmt, Resonanzfrequenzen vonTeilresonatoren ergäben in der Zusammenstellung die Resonanzfequenzen des Gesamtresonators. De facto muß man Frequenz für Frequenz durchgehend die Reflexion und Transmission von Wellen an allen Übergängen zwischen den Teilresonatoren und den Resonatorenden ermitteln und dann die Überlagerung von vielen reflektierten und transmittierten Teilwellen berechen, um zu ermitteln, für welche Frequenzen Resonanz eintritt. Die Durchführung solcher Berechungen für einen einzelnen Resonantor ist unter Reflexionen und Resonanz veranschaulicht.


Das Bild soll anschaulich machen, welche tiefste Resonanzfrequenzen für typische Abmessungen im Vokaltraktbereich zu erwarten sind.

Bei derselben Länge sind die Werte beim Resonatortyp zu-offen (Lambda-Viertel (gedackt)) halb so hoch wie beim Typ offen-offen (Lambda-Halbe).

Bemerkenswert: betrachtet man den gesamten Vokaltrakt als ein Rohr von annähernd konstantem Durchmesser mit 17,5 cm Länge, das als zu-offen-Resonator wirkt, so ergibt sich eine tiefste Resonanzfrequenz von ca. 500 Hz. Die höheren Resonanzfrequenzen für diesen Typ sind die dreifache, die fünffache, die siebenfache etc..

Das Ergebnis entspricht in etwa der Lage der Resonanzfrequenzen des Schwa-Lautes (z.B. Endlaut des Wortes "heute"), bei dem die Artikulationsorgane so eingestellt sind, daß keine starken Einengungen im Vokaltrakt auftreten. Dies legitimiert die Näherung eines konstanten Durchmessers.

Allerdings stellt sich auch hier die Frage: Wie kann es zu einer Resonanzfrequenz von 250 Hz (bei I oder U) kommen? Die Antwort: man kann dies akustisch erklären, wenn man die Reflexionen von Wellen in einem Resonator mit verschiedenen Durchmessern betrachtet. Bereits ein Modell mit zwei verschiedenen Durchmessern bei einer Gesamtlänge von 17,5 cm kann eine tiefste Resonanzfrequenz von 250 Hz erbringen.


5.3: Diskussion

Man könnte noch argumentieren, das die Randbedingung an der Engstelle zum Nachbarresonator nicht als "zu" einzuschätzen sei, sondern komplexer und damit zu anderen Eigenfrequenzen führt, als oben beschrieben. Dies ist durchaus zutreffend, es ist aber so, dass diese Randbedingung dann wesentlich vom Nachbarresonator bestimmt ist. Dies paßt aber nicht zur Resonanzkammertheorie, die ja eine Eigenständigkeit der einzelnen Resonatoren vorgibt.

Prinzipiell ist noch zu berücksichtigen, dass sich anderere Eigenfrequenzen ergeben können, als oben angegeben, wenn ein Resonator nicht als länglich betrachtet werden kann, wenn zum Beispiel der Durchmesser nicht wesentlich kleiner ist als die Länge.

5.4: Zusammenfassung

Die Einteilung des Vokaltraktes in autonome "Resonanzkammern" , deren Resonanzfrequenzen (z.B. in einer Kammer mit 250 Hz, in einer anderen 1000 Hz), durch Reihung die Resonanzfrequenzen des Gesamtvokaltraktes ergeben (also 250 Hz, 1000 Hz), ist akustisch unrichtig. Die physikalischen Größenordnungen stimmen nicht, und das akustische Geschehen beim Zusammenwirken von Teilen (den kammern entsprechend) eines Resonators wird nicht richtig berücksichtigt. Es darf vermutet werden, daß der Wunsch nach einfacher Systematisierung zu dieser Vorstellung führt.

Ein klares Bild der typischen Dimensionen von Resonatoren für bestimmte Frequenzen beziehungsweise Tonhöhen und Klangfarben (Formanten) ist ausgesprochen hilfreich für ein widerspruchsfreies Bild der Stimmfunktion und für jede Art von praktischer Arbeit an der Stimme.


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